Jüngling der Schwarzen Kunst – Berichtsheft 2 – Fräulein Lamboy und der Laut des Besens

Prolog hier

Historisch betrachtet sind Groß- und Kleinbuchstaben Urgroßeltern und Urenkel. Unsere Großbuchstaben stammen von der Römischen Capitalis ab. Nach dem Zusammenbruch der römischen Kultur wandelte sich die Capitalis unter dem Einfluss neuer Schreibmaterialien, Schreibtechniken und Schreibziele zur Kleinbuchstabenschrift. Etwa um 800 war dieser Prozess mit der Karolingischen Minuskel abgeschlossen. In den folgenden Jahrhunderten verfällt die Schrift. Erst die Humanisten der Renaissance besinnen sich wieder auf die klar lesbare Karolingische Minuskel. Sie halten sie fälschlich für eine Schrift der Römer und verbinden sie mit der Römischen Capitalis, die ihnen von den antiken Denkmälern, Säulen und Portalen noch klar entgegentritt. Diese Kombination aus römischen Majuskeln und karolingischen Minuskeln nennen sie Antiqua. Nachträglich kam nur der i-Punkt hinzu und das kleine t hat sich vorwitzig die Andeutung einer Oberlänge angeeignet. Es ist die Form unserer Schrift bis heute.

Der deutsche Setzkasten hat beide Generationen in einem Haus, oben die Alten, gravitätisch in Reih und Glied, unten das junge Volk, das seinen Platz nicht kennt. Natürlich liegen die Kleinbuchstaben je nach Sprache anderes. Die Anordnung spiegelt das gewachsene handwerkliche Sprachwissen. Die häufigst gebrauchten Buchstaben liegen dem Schriftsetzer am nächsten, wenn er mittig vor dem Kasten steht.

Links und rechts der engen Krämergasse stehen hohe Patrizierhäuser. Von den Bomben des Krieges war die Krämergasse wegen ihrer Nachbarschaft zum Münster weitgehend verschont geblieben. Nur das Eckhaus am Münsterplatz war von einem Blindgänger niedergelegt worden. Neben dem schmucklosen Neubau, in dem sich ein Antiquariat befindet, erhebt sich das stattliche Verlagshaus der Köllens, einer alteingesessenen Familie, die seit Generationen den Zeitungsverlag mit der angeschlossenen Druckerei betreibt.

Die Gasse herauf kommen eine Frau in Schwarz und ein Junge. Sie sieht abgearbeitet aus, doch sie hat sich fein gemacht. Der Junge an ihrer Seite ist klein und schmächtig, gerade einmal 13 Jahre alt. Er trägt eine braune Ledertasche unterm Arm. Vor dem Verlagshaus bleiben sie stehen. Die Frau drückt einen Flügel der großen Pforte auf und steigt mit ihrem Sohn die knarrende Treppe hinauf zum Büro.

Hinter einem Schreibtisch sitzt eine junge Sekretärin, hübsch anzuschauen, wenn nicht ihr linker Arm ein wenig zu kurz geraten wäre. Die Uhr an der Wand zeigt zwanzig vor acht Uhr.
„Guten Morgen, ich bin Frau Overlack. Wir sind angemeldet“, sagt die Frau. „Mein Sohn soll heute seine Lehrstelle antreten.“
„Ach ja“, sagt die Sekretärin, „dann musst du Hannes sein. Herzlich willkommen!“
Der Junge wird rot und murmelt einen leisen Gruß.
Sie greift nach dem Hörer der Haussprechanlage und spricht hinein.

Ein Mann um die 40 mit Bürstenhaarschnitt und angetan mit einem grauen Kittel kommt durch die rückwärtige Tür herein und begrüßt wortkarg Mutter und Sohn. Er ist der Juniorchef und Leiter der Setzerei. Die Mutter ist rasch verabschiedet, sie legt ihrem Sohn noch kurz die Hand auf den Kopf, dann geht sie.
„Gut“, sagt der Junior, „dann komm mal mit!“
Sie gehen einen langen Gang entlang, der in die Tiefe des Hauses führt, dann eine Treppe hinauf.
„Hier ist unsere Setzerei“, sagt der Junior. „Du bist zu früh, noch ist niemand da. Wir fangen um acht Uhr an.“ Er öffnet eine doppelflügelige Schwingtür. Dahinter tut sich ein heller Saal auf mit hoher Decke und ebenso hohen Fenstern an einer Seite. Für den Jungen öffnet sich ein phantastisches Reich. Er steht ehrfürchtig und entzückt vor den Regalgassen mit ihren unzähligen Schriftkästen, allesamt sauber in die Schubfächer sortiert, gefüllt mit Bleilettern. Gewiss war jede der 12 Regalgassen tonnenschwer, und ihm war als ragten die Regale tief in die Erde hinein wie dieser Beruf. Jeder Kasten hatte an seiner Stirnseite ein kleines Messingrähmchen. Darin steckten angeschmutzte Kartonschildchen mit dem Namen der Schrift und der Schriftgröße. Der Jüngling geht in die Knie und liest ein Schildchen. „10 pt Garamond“ steht da. Was kümmerts, dass die Schrift gut 300 Jahre alt ist, was er sowieso nicht weiß. Denn auf dem Tisch stehen Pakete mit neuen Lettern, frisch aus der Gießerei. Der Junior wickelt ein Paket aus. Wie er das Packpapier zur Seite geschlagen hat, haben sie die neuen Lettern vor sich, eng in Reihen geordnet, aber ohne rechten Halt, wie jederzeit bereit auseinanderzufallen.

Der Jüngling war begeistert von der technischen Schrift, begeistert von der Möglichkeit, aus einer hingeschmierten Bleistiftnotiz auf einem Fetzen Manuskript ein sauberes Druckwerk zu machen. Für seine eigene Handschrift hatte er sich immer geschämt. Es war ihm nie gelungen, die Schleifen und Girlanden der Lateinischen Ausgangsschrift exakt nachzuahmen, wie seine verehrte Lehrerin Fräulein Lamboy sie auf der Wandtafel vorgezirkelt hatte. Weil er darin glaubte zu versagen, hatte er schon früh seine Handschrift zur Druckschrift umgeformt, was aber seinem Wunsch nach Perfektion auch nicht entsprach. Vielleicht hatte alles an Fräulein Lamboy gelegen. Sie hatte in ihm die Verehrung der Schrift und der Bücher geweckt. Oder anders: Die Verehrung, die eigentlich Fräulein Lamboy galt, war auf die Schrift und die Bücher übergegangen.

Sein erstes Buch war ein Bilderbuch, das ihm sein älterer Bruder aus der Bücherei ausgeliehen hatte. Es handelte von einer Osterhasenfamilie, die in Ostereierhäusern wohnte. Da gab es viel zu gucken, zu deuten und zu vermuten, doch wie die Dinge in der Osterhasenwelt nun wirklich zusammenhingen, konnte er den Bildern nicht entnehmen. Da beneidete er seinen Bruder, denn er verfügte über das Geheimwissen, das aus den Buchstaben kam.

Dieses Geheimwissen hatte ihn Fräulein Lamboy gelehrt. Sie machte ihn Erstklässler mit den Buchstaben bekannt, indem sie Geschichten aus ihrem Alltag erzählte. An eine erinnerte er sich noch: Sie war mit dem Zug im Kölner Hauptbahnhof gewesen. Da war ein Mann mit einem Besen und kehrte den Bahnsteig. Sein Besen machte: „ffff – fffff – fffffff.“ Und wie er sich noch den Bahnsteigkehrer vorstellte, zeigte Fräulein Lamboy etwas Zauberhaftes. Den Ton des Besenstriches aus ihrem Mund konnte sie mit Hilfe eines Zeichens an die Tafel bannen und jederzeit in die Welt der gesprochenen Sprache zurückholen.

So lernte er das „f“ und alle anderen Buchstaben des Alphabets über anschaulich vermittelte Laute. Mit jedem gelernten Buchstaben drang Schrift in seine Welt. Bücher begannen zu sprechen, und zum freiwilligen Lesen gesellte sich das unwillkürliche Lesen; Verpackungen offenbarten ungefragt ihre Versprechungen und Plakate riefen mir ihre eigennützigen Botschaften zu.

Fräulein Lamboy hatte schöne weiße Hände, anders als die groben Hände der Landfrauen. Einmal nahm er sich die Bürste und scheuerte seine Hände über dem Waschbecken, bis seine Mutter fragte, was in ihn gefahren wäre. Da sagte er: „Ich will so schöne weiße Hände wie Fräulein Lamboy haben.“

Doch Fräulein Lamboy hatte eine seltsame Krankheit, die sich just an ihren Händen zeigte. Im Laufe des Vormittags verkrampften sich ihre Finger und krümmten sich nach innen. Sie hielt dann die Kreide zwischen den verkrampften Fingern beider Hände. Wenn sie derart mit Kreide und Tafel zu kämpfen hatte, litt er mit Fräulein Lamboy und hoffte für sie, dass der Unterricht bald endete, damit sie endlich mit dem Fahrrad zum Arzt des Nachbardorfes fahren konnte, der ihr täglich ein entkrampfendes Mittel spritzte.

Fräulein Lamboy betreute die Leihbücherei des Dorfes. Als er in der vierten Klasse war, bestellte sie ihn zu sich nach Hause, weil er ihr helfen sollte. Auf ihrem Wohnzimmertisch stapelten sich neue Bücher, die sie mit Rückenschildchen versehen und in Klarsichtfolie eingebunden hatte. Sie legten sie in einen Wäschekorb und trugen sie in die Bücherei. Dort räumte er die neuen Bücher in die Regale, während Fräulein Lamboy die Karteikarten schrieb. Er war glücklich gewesen, in dieser Wunderwelt der Bücherei sein zu dürfen. Und das Zeichen für den Laut des Besens war einer von 26 Schlüsseln, die er Fräulein Lamboy verdankte.

Genauso glücklich war der Jüngling, als er vom Junior in das Reich der Bleilettern eingeführt wurde. Da dachte er nicht an harte Arbeit, obwohl er noch keinen der Setzkästen heben, ja nicht einmal an die Reihe der Großbuchstaben langen konnte, wenn ein Setzkasten schräg aufgestellt war.


Fortsetzung

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