Jüngling der Schwarzen Kunst – Berichtsheft 3 – Die 13. Gasse

Prolog Teil zwei

Des Jünglings Kindheit endete so abrupt wie eine Kindheit beginnt. Nach seinem ersten Arbeitstag steht er in der häuslichen Dachstube auf dem Stuhl und schaut aus dem Fenster der Dachgaube. Hinter ihm bereitet seine Mutter das Abendbrot. Er fragt: „Muss ich das jetzt mein ganzes Leben machen?“ Sie antwortete nicht, weiß genau, dass er nicht zum Fenster hinauszuschauen meint. Vielleicht will sie das Schreckliche der Aussicht auf sein Leben nicht sehen, vielleicht denkt sie, dass er eines Tages groß genug sein würde, um nicht mehr auf dem Stuhl stehen zu müssen, wenn er aus dem Fenster schauen will. Vielleicht hat sie aber auch einen Funken Hoffnung, dass er nicht sein Leben lang am Setzkasten stehen würde, dass er einen Weg finden würde, darüber und sogar über sich hinauszuwachsen. Das aber wagt sie nicht zu sagen, er ist noch zu klein für diese Idee.

Die Gesellen riefen ihn Jüngling oder Nettesheim. Der Jüngling teilte sich die 13. und letzte Regalgasse mit Dyckers. Die beiden standen mit dem Rücken zueinander. So ein Paar heißt „Arschgespann“. Doch eigentlich mochte Dyckers mit einem Lehrling kein Gespann bilden. Er selbst war gerade erst diesem Status entwachsen, da tut Abgrenzung Not. Außerdem war die Gasse vorher sein alleiniges Reich gewesen; hier hatte er ab seinem 3.Lehrjahr ziemlich frei schalten und walten können. Deshalb betrachtete er den Jüngling als Eindringling, über den ihm zur Entschädigung die Verfügungsgewalt gegeben war.

Der Jüngling war damit einverstanden, dass die Gesellen ihn Nettesheim nannten nach seinem Geburtsort. Er hatte schnell gemerkt, dass er gar nichts von der Welt jenseits seines Dorfes wusste. Wenn er vor einem der schräg aufgestellten Setzkästen stand, konnte er nicht in die Fächer der Großbuchstaben hinein sehen. So war seine Welt beschaffen gewesen. Er hatte nicht sehen können, was da jenseits seines Horizonts lag. Er konnte nur hoffen, irgendwann groß genug zu wachsen. Trotzdem war er sicher, alles und jeden in die Tasche stecken zu können. Der Geselle Kaumanns konnte mehr als Dyckers, war ihm aber untertan. Nettesheim verachtete Dyckers, folglich stand er auch über Kaumanns. Darüber musste er nicht nachdenken, er wusste es einfach. Daran änderte auch nicht der Umstand, das er alle der gut 20 Schriftsetzergesellen mit Sie anreden musste.

Die Gasse befand sich in einer Erweiterung des Setzereisaales, im so genannten Glashaus. Es war ehedem eine Dachterrasse im Hinterhof gewesen. Als der Setzereisaal zu klein wurde, hatte man einen Durchbruch gemacht und die Terrasse ringsum mit Milchscheiben verglast. So standen die beiden beim Arbeiten also eigentlich außerhalb, wie in einem lang gestreckten Wintergarten, der sich sogar an der Rückfront des Nachbarhauses vorbeizog. Zunächst war Nettesheim von dem hellen luftigen Ort sehr angetan, denn er linderte das Gefühl, tagsüber eingeschlossen zu sein. Doch bald wurde ihm klar, warum die Altgesellen im Glashaus nicht stehen mochten. Es gab da allerhand befremdliche Erfahrungen zu machen.

Sein Arbeitstisch lag am linken Ende, zwischen Linienregal und Klischeeregal. Hier guckte er gegen das stumpfe Glas eines hohen Fensters, das von innen mit Spanplatten vernagelt war. Dahinter befand sich das Büro des „Kerzenhauses“, eines kleinen Ladens nebenan, in dem es katholische Kultgegenstände zu kaufen gab und dessen Inhaber, Lenz, ein Neffe des Verlagschefs ist. Nettesheim konnte Lenz deutlich hören, wenn er laut ins Telefon sprach, wie es seine Gewohnheit war.

Es ist die Zeit um den Weißen Sonntag herum. In Lenzens Kerzenhaus läuft das Erstkommuniongeschäft. Immer wieder kommt eine Angestellte aus dem Kerzenhaus herüber gerannt und bringt neue Zettel mit Namen von Erstkommunionkindern, die auf Gebetbuchzettel gedruckt werden sollen. Die Namen sind nur hintereinander weg zu setzen, aus der 16 Punkt Garamond halbfett, bei 16 Cicero Satzbreite auf Mitte ausgeschlossen. Dazwischen soll je eine halbfette Linie liegen, damit der Drucker die Namenszeilen bequem von oben wegnehmen und in der Druckform austauschen kann. In der Buchbinderei würden die druckfrischen Kommunionkinder später noch mit Goldfarbe eingestäubt werden.

Die Arbeit ist anspruchslos, wie geschaffen für den unerfahrenen Jüngling. Weil es aber sein erster selbständiger Auftrag ist, widmet er sich ihr mit großem Ernst. Die Zettel sind von verschiedener Größe, manche nur abgerissene Ecken von diversen Papieren, und die Namen sind mit Bleistift oder Kugelschreiber nachlässig hingeschmiert. Das macht alles nichts. Der Jüngling wird sie in die rechte Form bringen.

Während sich sein Setzschiff langsam mit Erstkommunianten füllt, hört er plötzlich ein Klopfen, und dann tönt hinter dem blinden Fenster die joviale Stimme des Auftraggebers aller Gebetbuchnamen:
„Hallo, mein dralles Püppchen! Meine süße Muschi! Nur zu, komm herein!“
Eine Frauenstimme sagt breit: „Guttentaag!“
„He, das ist Senta!“ sagt Dyckers. „Die putzt bei Lenz. Eine Spanierin. Das ist vielleicht ein geiles Luder!“

Er kommt herüber und drängt sich horchend neben Nettesheim. Eine ganze Zeit schäkern Lenz und Senta herum. Dann plötzlich klatscht es laut, gefolgt von einem lüstern meckernden Lachen, und Senta schreit halbherzig entrüstet: „Alte Sau!“
Das wiederum scheint Lenz sehr zu freuen, er lacht weiter und ruft: „Komm her, Sentalein, gleich pack ich dich und lege dich auf dem Schreibtisch flach!“
Nettesheim traut seinen Ohren nicht. Er sieht den Laden vor sich, mit all seinen prachtvollen Kerzen, Heiligenfiguren, Jesusbildern und Kreuzen, den aufgeregten Kommunionkindern, die ihre Gebetbücher und Kommunionbildchen aussuchen, denkt an die Priester und Nonnen beim kauflustigen Betrachten der Devotionalien und mag sich gar nicht ausmalen, was sich zwei Etagen höher, direkt nebenan im Büro des Kerzenhauses abspielt.
„Unkeusch, unkeusch!“ durchzuckt es ihn. Er hatte einen Freund bei den Messdienern gehabt, der rief bei jeder Gelegenheit: „Küssen – Todsünde!“, und jetzt das hier.

Die Szene wiederholt sich jeden Donnerstagmorgen, mal verhalten, mal tumultartig. Lenz ist ein Mann mit starken Stimmungsschwankungen. Wenn es ihm gelungen ist, unbezahlte Lieferanten zu vertrösten und Zahlungsfristen hinauszuzögern, hat er Oberwasser und will sich in der Welt versprühen. Dann ist das lüsterne Treiben hinter der Sperrholzplatte dem Jüngling schier unerträglich.

Das alles, die schäbigen Geschäftsverhandlungen am Telefon und das tollpatschige Liebesspiel, kam Nettesheim haarklein zu Ohren, weshalb er sich bald inbrünstig wünschte, Senta werde endlich einmal ihre Drohung „ich hole meine Mann!“ wahr machen, damit Lenz seiner gerechten Strafe zugeführt würde.

Links neben ihm, direkt über dem Linienregal, war noch ein Fenster, kleiner und höher angebracht, mit einer Milchglasscheibe, offenbar ein Toilettenfenster. Ehemals musste es nach draußen auf den Hof geschaut haben.
„Jetzt ist es ja eigentlich nutzlos“, denkt Nettesheim, und doch ist es einem seltsamen Abkommen gemäß immer noch da.
Eines Morgens, kurz nach neun Uhr, Nettesheim sortiert gerade friedlich die halbfetten Linien, da hört man es auf der hölzernen Stiege des Kerzenhauses eifrig poltern. Jemand betritt den Raum hinter dem Fensterchen, und darauf wird das Gespann ungewollt Zeuge eines eiligen Toilettenbesuches, der zu ihrem Leidwesen überaus heftig ausfällt. Es donnert und kracht in Intervallen derart in die Schüssel, wie es nur vorkommt, wenn dem natürlichen Vorgang durch Abführmittel nachgeholfen wird, so dass dem Jüngling sich ebenfalls der Magen umzudrehen droht, durch pure Imagination. Während er noch seinen Ekel niederkämpft, raschelt Papier, die Spülung rauscht durch das Fallrohr ins Becken, Kleidung wird geordnet, Wasser plätschert, Seife schmatzt, eine Spraydose bläst anhaltend, und dann, der Jüngling erschrickt fürchterlich, öffnet sich das Fenster und eine Frau sagt in die Gasse hinein: „Guten Morgen zusammen!“
Der Raumspray weht heraus und bringt unverkennbar schwere Gerüche mit, derweil die Frau die Toilettentür bereits nachlässig hinter sich zugeworfen hat und wieder die Stiege hinabeilt. Selbst Dyckers war einen Moment perplex gewesen. Jetzt lässt er den Trauerbrief im Stich, an dem er gerade setzt, und eilt davon, um die Geschichte zu verbreiten.
Als er wiederkommt, hat er herausgebracht, dass dies Lenzens Ehefrau gewesen war, die neuerdings im Laden mithelfe, jetzt wo das Kind im Kindergarten sei, das sie Martina rufen.
Des Jünglings eilige Hoffnung, Lenz werde Senta nun in Ruhe lassen, erfüllte sich nicht. Eher schien der neue Umstand Lenzens Geilheit noch anzustacheln. Die Möglichkeit, von seiner eigenen Frau beim Liebesspiel mit Senta ertappt zu werden, trieb ihn offenbar zu immer wüsteren Übergriffen, und um so toller fielen auch die lautstarken frivolen Zankreden aus.
Ab da fühlte sich Nettesheim von beiden Eheleuten drangsaliert, denn zu der tönenden Unzucht, die der Jüngling rotohrig zu ertragen hatte, gesellte sich allmorgendlich das scheußliche Hörbild des künstlich beschleunigten Toilettenganges. Aber schon am dritten Tag siegte des Jünglings anerzogene Höflichkeit; wenn das Fensterchen aufging, hob er aufmerksam erwartungsvoll den Kopf und grüßte artig in die Toilette hinein zurück. Sobald Frau Lenz aber hinabgeeilt war, reckte er sich über den Ausschlusskasten hinweg, langte mit spitzen Fingern nach dem Fensterrahmen und zog die Luke dicht.
Da war noch ein Fenster, am anderen Ende der Gasse, direkt unter der Uhr und neben dem Ventilator. Es war das einzige in der echten Verfügungsgewalt der Setzer, das sich weit öffnen ließ. Alle anderen waren durch Regale verstellt. Wenn der Jüngling sich auf sein Bänkchen stellte, konnte er aus diesem Fenster auf einen Balkon sehen. Der lag etwas höher als das Niveau der Setzerei und schien nur als Abstelle für Limonaden- und Sprudelkästen benutzt zu werden. Er gehörte der Pächterin eines Restaurants am Hafen unten, einer forschen dauergewellten Rothaarigen, die es sich ebenfalls nicht nehmen ließ, gelegentlich durchs Fenster hereinzuschauen, neugierig in die Setzereigasse zu lugen und dann „Guten Tag, meine Herren!“ zu rufen. Das sah sehr lustig aus, wenn ihr gelockter Kopf so hoch oben auftauchte, wie aus einer Himmelsluke. Und Dykers, der sehr auf sich hielt, ein Frauentyp zu sein, tauschte eine Kette kleiner Anzüglichkeiten mit diesem wunderlichen Engel aus, während der Jüngling schüchtern auf seine Arbeit starrte.

Es gibt eine Ordnung

Sie messen mit Linealen aus Messing, die sie Typometer nennen. Ihr Maß ist ein 12er-System. Die kleinste Einheit ist der Punkt, 12 Punkt sind ein Cicero, 4 Cicero bilden eine Konkordanz. Die Regletten und Stege und somit die gängigen Satzbreiten sind in Konkordanzen abgestuft. Es gibt sie in 8, 12, 16, 20 und manchmal 24 Cicero Länge. Was darüber geht, wird zusammengesetzt.
Anfangs steht der Jüngling oft im Weg herum. Er soll lernen, da muss er doch zugucken.
„Rutsch mal ein Cicero zur Seite!“ sagen die Setzer gutmütig. Aber wieviel in Gottes Namen ist das?
„Ein Cicero hat 12 Punkt, 2660 Punkt gehen auf einen Meter! Also, rechne!“
Herrje, wer soll davon eine Vorstellung gewinnen?
Einmal um die Erde gerannt und man hätte 1.415.554.147 Cicero zurückgelegt.
Das Dezimalsystem ist in der Setzerei nur gering angesehen. Die Schriftsetzer schulen ihr Augenmaß an der feineren Einteilung des Punktsystems. Und rechnen lässt sich mit einem 12er-System allemal besser. Die 12 ist teilbar durch 1,2,3,4,6 und 12, die 10 dagegen nur durch 1,2, 5 und 10. Weil es in der Typographie auf die richtige Aufteilung des zur Verfügung stehenden Raumes ankommt, kann das Dezimalsystem hier nicht konkurrieren. Allein bei den Papierformaten muss es beachtet werden. Beim Druck treffen die beiden Maßsysteme noch zusammen.
Die Schriftgrößen beginnen bei 5 Punkt (selten bei 4). Aber das ist Augenpulver und allenfalls für die Allgemeinen Geschäftsbedingungen einer Versicherung gut. Die gängigen Größen gehen so:

Wie lautet die Geschichte der Namen?
Im deutschsprachigen Eupen der 50er Jahre war eine seltsame Mahnung der Mütter an ihre Kinder geläufig: „Die Sprache musst du lernen, Deutsch lernst du sowieso!“
„Die Sprache“, das ist französisch, die Hoch- und Verkehrssprache der angrenzenden Wallonie. Wie die Eupener Mütter das Französische als die Sprache schlechthin ansahen, so kannten unsere Alten nur einen einzig wahren Text: Die Bibel. Lange Zeit war die Schriftgröße der Bibel 20 Punkt gewesen, hergeleitet aus dem Schreibkanon der mittelalterlichen Skriptorien. Was lag näher, als diese Schriftgröße „Text“ zu nennen?
Nicht alles ist so unmittelbar einleuchtend. Die 10-Punkt-Größe trage ihren Namen „Korpus“, weil mit ihr zuerst das „Corpus juris“ gedruckt worden sei. Cicero: Die Drucktypen der Briefe des Marcus Tullius Cicero (erschienen 1466) hätten 12-Punkt-Größe gehabt. Aber es hat auch ein Schriftschöpfer Hans Cicero im 16. Jahrhundert gelebt. Die meisten Etymologien verlieren sich jedoch im Grau der frühen Bleizeit.

Teil 4

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