Straße meiner Kindheit (10) – Halve Hahn und Bockreiter

Habe ich mich erschreckt, als dein Bett leer war. Die Stationsschwester sagt, sie würde dich am liebsten anbinden.

Schwester Josefa? Die ist ein Drachen. Immer grimmig, ein richtiger Kinderschreck. Ich habe nur Walter besucht im Saal neben der Kapelle. Da liegen mit Walter fünf Männer und machen eine Rollkur gegen ihre Magengeschwüre. Dürfen den ganzen Tag nur so einen dicken weißen Brei trinken und müssen sich jede Viertelstunde auf eine andere Seite legen, damit sich der Brei im Magen gut verteilt. Das ist ulkig, denn sie machen das gleichzeitig. Einer ruft: „Bitte wenden!“ Und fünf Männer wälzen sich auf Kommando im Bett, von der Seite auf den Bauch, auf die andere Seite, auf den Rücken. Zwischendurch jammert Walter, dass er nichts Richtiges essen darf. Er träumt von einem knusprigen halben Hähnchen. Die anderen schimpfen, weil er ihnen den Mund wässrig macht. Dabei ist doch gar nichts dran an so einem halben Hähnchen. Lauter Knochen.
Wenn die Leute aus dem Dorf nach Köln fahren und im Restaurant essen müssen, bestellen sie immer ein halbes Hähnchen, wissen Sie warum, Herr Trittenheim?

Weil es ihnen schmeckt?

Nein, weil sie glauben, sie dürften das halbe Hähnchen mit den Fingern essen. Sie können nämlich nicht gut mit Messer und Gabel umgehen und haben Angst, sich zu blamieren.

Vielleicht verwechseln sie nur das halbe Hähnchen mit einem halve Hahn. Das ist aber ein Roggenbrötchen mit mittelaltem Gouda. Vor über hundert Jahren ist mal einer vom Dorf mit Freunden in ein kölsches Brauhaus gekommen und hat mit dem Köbes vereinbart, wenn er für jeden ein halbes Hähnchen bestellen würde, soll der Köbes 14 „Röggelche met Kies“ servieren. Das Käsebrötchen kostete nämlich nur 15 Pfennig. Der Jux stand in der Zeitung und wurde viel belacht. Seither bedeutet in Köln „ne halve Hahn“ eine Käsebrötchenhälfte.

Muss ich Walter erzählen.

Woher kennst du ihn?

Walter war mal Knecht bei Schmitz, dem Gutshof in unserer Straße. Aber da ist er weg und arbeitet jetzt in der Fabrik. Der Schmitz konnte ihn nicht mehr bezahlen. Der versäuft alles. Die anderen Bauern lästern über den versoffenen Schmitz, weil er seine Felder nicht rechtzeitig bestellt. Wir Kinder haben ein bisschen Angst vor ihm. Er ist so jähzornig und brüllt, wenn er uns beim Musen erwischt.

Ihr wart im Gehöft und habt da gemust?

Jetzt nicht mehr, aber als ich noch kleiner war, war der ganze Hof unser Spielplatz. Obwohl das Gehöft ringsum geschlossen ist, kamen wir überall rein, wenn wir wollten. Im Herrenhaus waren wir besonders gern. Da gibt es hinter den beiden Flügeln der Eingangstür einen dicken Balken. Er steckt ganz in der Mauer. Man kann ihn an einem Ring herausziehen, quer über die Tür bis ihn eine Gegenöffnung in der anderen Mauer. Es heißt, der diente in alter Zeit als Schutz gegen die Zigeuner. Wenn der Balken vorlag, konnten sie die Tür nicht aufdrücken. Das muss aber lange her sein. Ich kenne nur Zigeuner, die Teppiche verkaufen wollen, also die Männer. Die Zigeunerinnen betteln. Die Leute erzählen, dass die mit dem dicken Mercedes ankommen, vor dem Dorf aussteigen und zu Fuß mit ihren Teppichen oder bettelnd von Haus zu Haus gehen. Hinter dem Dorf steigen sie wieder in den Mercedes ein und fahren weiter.

Warum sollten die Zigeuner keinen Mercedes fahren dürfen?

Weil die immer so arm tun. Das ist doch Betrug!

Einen falschen Anschein zu erwecken, ist kein Betrug. Solange sie keine Türen aufdrücken.

Brauchen sie sowieso nicht. Ist ja nie eine Tür abgeschlossen.

Ich glaube eher, dass der Balken ein Schutz gegen Räuberbanden war. Im 18. Jahrhundert haben die Bockreiter, eine Räuberbande von der Maas das ganze Rheinland unsicher gemacht. Sie sollen mit dem Teufel im Bund gewesen sein und konnten ganz plötzlich irgendwo auftauchen und wieder verschwinden. Angeblich ritten sie auf Ziegenböcken. Ihre Zentrale war ein Keller in dem Städtchen Maaseik mit geheimen Verbindungsgängen zu den Kellern rund um den Markt. Wer bei den Bokkenrijders, so hießen sie auf Niederländisch, mitmachen wollte, musste in der Zentrale auf einem hölzernen Bock aufsitzen. Der wurde in schnelle Drehung versetzt, und wer runter fiel, war bei der Aufnahmeprüfung durchgefallen und konnte kein Bockreiter werden.

Klar. Wer sich auf dem Holzbock nicht halten kann, könnte auch keinen Ziegenbock reiten.

Sie brauchten keine Ziegenböcke, denn sie hatten einen Zauberspruch. Der brachte sie überall hin. Er ging so: „Over huis, over tuin, over staak, en dat tot Keulen in de wijnkelder!“ [Übers Haus, über den Garten, über den Stock, und das bis Köln in den Weinkeller!]

Darum konnten sie sicher auch auftauchen und verschwinden wie sie wollten.

Du musst ja bedenken, dass es keine Straßenbeleuchtung gab. Im 18. Jahrhundert lag euer Dorf nachts in völliger Finsternis. Da sah man niemanden kommen.

Und wenn sie in finstrer Nacht bei Schmitz über die Stalldächer in den Hof sprangen, gruselig. Ein Glück, dass wir in moderner Zeit leben.

Damals war auch moderne Zeit. Alle Generationen erleben den Wandel. Früher war die Welt so und neuerdings ist sie so. Das Krankenhaus hier war ja nicht immer da. Es wurde im 19. Jahrhundert von einem reichen Gutsfräulein gestiftet. Irgendwann wird es abgerissen. Dann wird unsere Gegenwart auch mal alte Zeit heißen.

Warum sollte man das Krankenhaus abreißen? Ist doch schön, wenigstens von außen, mit seinen gelben Klinkern und den Zinnen.

Auf Wunsch der Stifterin wird es von Ordensschwestern geleitet und betrieben. „Die Armen Mägde Jesu Christi“ aus dem Westerwald haben Nachwuchsmangel.

Ja, es gibt hier nur alte Schachteln, obwohl man sie schwer schätzen kann, weil der Schleier nur das Gesicht freilässt.

Wird fortgesetzt

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