Jüngling der Schwarzen Kunst – 4 – Metzgergesänge

Prolog Teil zweiTeil drei

Unten im Hof war die Wurstküche der Metzgerei Dreckkötter. Freitags zog von dort der Geruch gebratener Frikadellen in die Setzerei, wo er sich hartnäckig festsetzte. Ärger jedoch war das tägliche Kreischen der Knochensäge. Dieser infernalische Lärm hatte Nettesheim schon in Kindertagen eine Gänsehaut eingejagt, und da hatte der Bauer in der Nachbarschaft nichts als Holz gesägt. Das hier aber war eindeutig schlimmer, denn es ging ja in zweifacher Hinsicht durch Mark und Bein. Zudem war der Metzgermeister ein Sangesbruder, der sich vom Hall seiner gekachelten Wurstküche immer wieder herausfordern ließ. Was aber kann schlimmer sein als die Vorstellung von einem, der, mit den Armen bis zu den Ellenbogen im Blut, gemütlich Arien trällert? Oft lief auch böse brummend ein Separator, und während mit diesem Gerät die unsäglichsten Kadaverteile für die Wurst zu Paste zermahlen wurden, erschallten wie diabolische Kommentare die selbstzufriedenen Gesänge des Metzgermeisters. Manchmal ließen sich auch die Gesellen verleiten und stimmten mit ein, bis der Meister sie wütend anschrie, mal solle ihm gefälligst nicht sein Liedchen klauen, also „Aufhören!“ und „Schnauze halten!“ Sogleich war es aus mit dem Singen, wüste Worte flogen hin und her, aus den vormaligen Sängerkehlen rauh hervorgestoßen, und man bewarf sich mit diversen Gerätschaften und Knochen. Das waren die Ausrufezeichen. Was nicht traf, landete krachend in den Ecken, ging es ins Ziel, lamentierte der Getroffene, und der Werfer frohlockte.

Diese penetrante olfaktorische und akustische Präsenz hatte nun gar keine optische Entsprechung. So sehr man sich auch bemühen mochte, durch die Fensterspalten hinter den Regalen konnte man nicht bis unten sehen.
Trotzdem weiß Dyckers einiges über den Metzgerhof.
„Einmal stand der Geselle an der Knochensäge, da hat der Dreckkötter ihn voll in den Arsch getreten, dass der Geselle nach vorne gefallen ist und sich zwei Finger abgesägt hat. Zack, zack! Und dann konnten sie in der Knochenkiste zwischen all den Knochen die abgetrennten Finger nicht finden. Als der Geselle schon mit dem Krankenwagen abtransportiert war, hat Dreckkötter sie endlich aus der Knochenkiste aussortiert und ist hinterhergefahren, damit sie ihm die Griffel wieder annähen konnten.“
„Und dann?“ fragt der Jüngling bestürzt.
„Die Finger sind wieder angewachsen, der kann jetzt besser in der Nase bohren als früher!“
„He, Dyckers, du erzählst dem Jüngling Sachen!“ Kaufmann kommt kichernd aus seiner Gasse herüber.
„Ist wirklich passiert. Das war tagelang Stadtgespräch.“
„Jaja, und wer hat das gesehen? Der Mann mit den Glasaugen? Zeig dem Jüngling lieber mal, wie man von hier aus die Metzger ärgern kann! Los, mach schon!“
Kaufmann sucht offenbar ein wenig Abwechslung, denn er stöhnt schon seit Tagen über den Preislisten einer Großhandelskette, die als Stehsatz vom letzten Quartal noch da sind, und in denen jetzt alle Preise ausgetauscht werden müssen.
Dyckers lässt sich nicht lange bitten.
„Komm mal her, Nettesheim, wir zeigen dir mal was!“
Nettesheim legt den Winkelhaken vorsichtig auf den Setzkastenrand und geht folgsam hinüber.
Dyckers öffnet das Fensterchen über dem Futura-Regal. Der Jüngling denkt, er werde vielleicht hinunterspucken wollen, und fragt sich schon, wie er das Kunststück wohl fertig bringen würde, bei dem engen Fensterspalt. Doch Dyckers greift in das e-Fach der aufgestellten 8 Punkt Futura mager und nimmt eine Handvoll der matt glänzenden Bleilettern heraus.
„Gleich kannst du ein paar Metzger schreien hören“, sagt er und sieht Nettesheim mit seinem Oliver-Hardy-Gesicht triumphierend an. Er streckt die geschlossene Hand zum Fensterspalt hinaus und lässt die Bleistäbchen nach unten in den Hof rieseln. „Scheißmetzger!!“ schreit er hinterher.
Echogleich hallen Beschimpfungen aus dem Hof zurück: „Ihr dreckigen Drucker, ihr miesen Wichser, Schweineköppe!!…Nu guck sich einer diese Sauerei an! Was fällt euch ein, ihr verdammten Arschlöcher?!“
Dyckers wirft prustend das Fensterchen zu.
„Ich habe bestimmt in die Wurstbütte getroffen! Das gibt eins a Bleiwurst!“
Kaum hat er das gesagt, da prasselt es wüst gegen die Verglasung. Die Metzger haben den Wasserschlauch aufgedreht und lassen den Strahl über die Scheiben gehen, auf der Suche nach einem offenen Fenster. Dyckers und Kaumanns wähnen sich sicher und liegen lachend über den Setzkästen. Der Jüngling aber steht ratlos da, als plötzlich das Fensterchen der anstürmenden Wasserkraft nachgibt und gegen das Regal schlägt. Das Wasser spritzt herein und trifft den verdutzten Jüngling, bevor er noch zur Seite springen kann. Gedeckt durch das Reglettenregal, gelingt es Kaumanns, das Fenster zu schließen, während Dyckers in die Knie geht, in einem ohnmächtigen Lachkrampf, und dabei wie mit letzter Kraft auf den tropfnassen Jüngling zeigt.
„Oaah, Nettesheim, du bist eine Marke!“ stöhnt er.
Die Metzger drehen den Hahn wieder zu und schicken noch ein paar Scheltworte hinauf, aber in der Setzerei haben sie dafür keine Ohren mehr. In einigen Fächern der 8 Punkt Futura steht dreckig das Wasser, und auf dem Linoleum ist eine große Pfütze.
Sie schicken Nettesheim nach einem Aufnehmer. Dann zerrt Kaumanns den Staubsauger aus der Ecke und macht sich damit über den Setzkasten her. Auf das Saugrohr ist ein schwarzer Gummiball aufgesteckt, der nach unten eine ausgestülpte Saugöffnung hat und oben einen großen Druckknopf, der auf einer Spiralfeder gelagert ist. Wenn Kaumanns die Saugöffnung in eines der gefluteten Setzkastenfächer stößt, wird nicht nur das Wasser schlürfend aufgesogen, sondern nach und nach flutschen auch alle Lettern in den Gummiball, wo sie blubbernd herumwirbeln. Sobald auch der nasse Dreck aus den Ecken gesaugt ist, drückt Kaumanns mit dem Daumen den Ventilknopf hinein, so dass die Saugluft dort zischend entweichen kann, wodurch die Lettern in ihr jeweiliges Fach zurückprasseln.
Erst als auf diese Weise alle Spuren des Wasserangriffs beseitigt waren, entließen sie den Jüngling. Der patschte steifbeinig zum Umkleideraum, wo er den durchnässten Kittel abwarf und die nasse Hose wütend zu Boden trampelte. Nun musste er die „gute Hose“ anziehen.
Wegen dieser Hose gibt es einen törichten Streit. Zu Beginn seiner Lehre hat die Mutter dem Jüngling zwei Jeanshosen gekauft, die im schwerfälligen Idiom der Landbevölkerung noch „Cowboyhosen“ heißen. Die eine soll er zum Arbeiten tragen, die andere auf den Wegen morgens und abends. Folgsam wechselt er morgens im Betrieb die Hose und hängt sie auf einen Bügel in den gemeinsamen Schrank der Setzer. Nach Feierabend findet er sie zerknüllt auf dem Boden. Dyckers sagt, eine solche Hose gehöre nicht auf den Bügel. Nettesheim weiß, dass sie elend aussieht. Sie passt ihm nicht und beult aus, weil sie billig gefertigt ist. Die anderen Setzer tragen Hosen aus besseren Tuchen. Ja, auch Dyckers und Kaumanns haben Trevira-Hosen, deren scharfe Bügelfalten das sorgsame Aufhängen auf einen Bügel rechtfertigen. Aber muss man eine elende Hose erst recht in den Staub werfen, damit sie noch schäbiger wirkt?
Beim Anziehen gerät er ins Straucheln. Jetzt sind auch noch Knoten in den Hosenbeinen. Ein Scherzbold hat sie hineingemacht und mit großer Kraft zugezogen.
Natürlich dient so ein Staubsauger nicht der Nassreinigung, dachte er, um sich abzulenken, aber dass es eine Möglichkeit gab, den elenden Staub und Bleidreck zu beseitigen, der sich besonders in den alten Holzkästen ansammelt, stellte ihn sehr zufrieden. Er hatte nämlich panische Angst vor einer Bleivergiftung. Schon sein Onkel Josef, der eine kleine Klitsche besaß, hatte den Beruf aufgeben müssen, weil die Ärzte zuviel Blei in seinem Blut gefunden hatten. Irgendwer hatte Nettesheim auch erzählt, früher seien viele Schriftsetzer an Bleivergiftung gestorben. Das schien ihm durchaus glaubhaft, denn beim Setzen wurden die drei Finger, mit denen man nach den Lettern griff, vom Bleidreck ziemlich schwarz, und wenn man die nun versehentlich zum Mund führt… Nettesheim mochte gar nicht daran denken. Ein gutes Gegenmittel solle Milch sein, hatte er gehört. So trank er täglich zwei Literflaschen leer, obwohl ihm die Milch oft ziemlich widerlich war, besonders wenn eine Flasche angebrochen einige Zeit gestanden hatte und warm geworden war. Wann immer die Gelegenheit sich bot, ging Nettesheim zum Waschbecken und schrubbte sich die Finger mit der grünen Paste, die dort stand, die nach Marzipan roch und eine Sandbeigabe hatte, so dass sich mit ihr die oberen Hautschichten mühelos abrubbeln ließen, wodurch die Hände rauh und rissig wurden. Aber besser das als Bleivergiftung, meinte der Jüngling. Die Gesellen lachten über ihn.
Kaumanns sieht ihn vom Waschbecken kommen und ruft:
„Jüngling, hast du saubere Finger?“
„Ja?“
„Das ist gut! Dann komm mal eben her und leg mir den Schwanz gerade!“
Andauernd fällt Nettesheim auf diesen Scherz herein, zum Gaudi der Gesellen. Er ist einfach zu wohlerzogen.

Die unangenehmste Eigenheit der 7. Setzereigasse erfuhr Nettesheim erst im Sommer. Bei seinem Eintritt war April gewesen. Der ganze Monat war kalt und nass, und in der Setzerei gluckste das warme Wasser anheimelnd durch die dicken Rohre der Zentralheizung. Nettesheim hatte eines unter seinem Arbeitsplatz, in genau der angenehmen Höhe einer Bierthekenfußraste, und oft stützte er einen seiner müden Füße darauf.
Doch im Juni war plötzlich die erste Hitzewelle da. Ab 10 Uhr etwa fiel das Sonnenlicht in den Hof. Binnen kurzem wurde es so heiß im Glashaus, dass ihnen Schweißbäche den Körper hinunter rannen. Dyckers entkleidete sich kurzerhand bis auf die Unterhose und zog darüber nur den Arbeitskittel, den er offen hängen ließ. So stellte er nicht nur seinen runden, stark behaarten Bauch zur Schau, sondern zeigte auch sein hässlich verunstaltetes Bein. Vor zwei Jahren war er nämlich einmal nachts ziemlich berauscht nach Hause gekommen, durch den Garten über die Terrasse ins Haus gelangt, und da er seinen strengen Vater nicht wecken wollte, hatte er kein Licht gemacht. Die gläserne Schiebetür zwischen Eß- und Wohnzimmer war geschlossen gewesen, er aber hatte sie offen gewähnt und war glatt hindurch gegangen. Dabei schabte er sich das Fleisch vom rechten Schienbein. Da mussten sie ihm in der Chirurgie etwas von seinen Hinterbacken nehmen, um die Sache einigermaßen zu ummanteln. Das jedenfalls behaupteten böse Zungen.
„Ja“, sagt Hof, der Metteur, das Lästermaul, als diese Geschichte einmal in der Pause erörtert wird, „damit wäre Dyckers der erste, den ich kenne, der sein Arschleder am Schienbein spazieren trägt.“

Es gab für diese extremen Hitzetage eine Berieselungsanlage. Aus einem perforierten Rohr, das oberhalb des Glasdaches längs der Hauswand angebracht war, ließ man zwecks Kühlung ein wenig Wasser rinnen. Einmal geschah es, dass man oben im Hauptgebäude den Hahn erst am hellen Mittag aufdrehte, aus Geiz oder Vergesslichkeit, jedenfalls hatte sich das Dach schon derart aufgeheizt, dass es unter den ersten zaghaften Rinnsalen im Glas verdächtig zu knacken anfing.
Indem das Arschgespann noch misstrauisch nach oben äugt, ertönt ein scharfer Knall, und knisternd läuft ein Riss durch die Decke, spaltet sich auf und teilt das Dach in drei unregelmäßige Felder. Im Nu gibt es einige leckende Stellen, aus denen es warm heruntertropft.
Dann kamen Regentage. Für den Guss aus der himmlischen Berieselungsanlage hatten sie natürlich nicht Eimer noch Plastikschüsseln genug, und der Jüngling kam mit dem Ausleeren und dem Wischen kaum noch nach.
Das waren die größeren Probleme mit der Gasse. Von den kleineren sei eines erwähnt.
An der Hauswand, direkt neben seinem Arbeitsplatz gewahrte Nettesheim ein dunkelgrünes gusseisernes Gehäuse. Ein Kabelstrang kam unten hervor und verschwand hinter dem Ausschlusskasten. Auf einer Klappe, die von zwei seitlichen Schrauben gehalten wurde, stand erhaben der Schriftzug „Post“. Mit diesem Gehäuse, das etwa die Form und Größe seines Henkelmanndeckels hatte, versetzte ihn Dyckers bald in helle Panik. Denn Dyckers plante einen Anschlag auf die heilige Institution Post.
Er vergewissert sich, dass die Luft rein ist, kramt einen Schraubenzieher hervor und löste flugs die beiden Schrauben.
„Normalerweise sind die Dinger verplombt!“
Der Deckel klappt nach unten und gibt den Blick frei auf ein Gewirr verschiedenfarbiger Kabel, die an allerlei Anschlüsse geschraubt sind.
„Das sind die Telefonleitungen von allen Häusern hier in der Gegend“, erklärt Dyckers dem beunruhigten Lehrling.
„Jetzt wollen wir den Doofmännern von der Post mal was zu Knobeln geben.“
Er löst routiniert einige Kabelanschlüsse, verdrillt sie und schließt sie wieder an. Das und dieses einvernehmende „Wir“ bringt den Jüngling ganz aus der Fassung. Aber er schaut machtlos zu und wagt kein Wort, denn Dyckers verträgt keine Gegenrede.

Gleich morgens betrat ein Herr den Verlag, der wie die vollkommene antike Ausgabe von Dyckers schien. Schnaufend begab er sich persönlich in die Setzerei und löste seinen Sohn aus. Der werde in einer Familiensache gebraucht.
Der Jüngling freute sich auf einen angenehmen Arbeitstag. Kaumanns kam in die Gasse und wies ihn an, Trauerbriefe auszuschlachten.
Das ist eine feine Arbeit. Er holt sich die ausgedruckten Trauerbriefe auf den Tisch und nimmt die Kolumnenschnüre ab. Zuerst sichert er die aus Linien gebauten Kreuze, denn die können bei neuen Trauerbriefen wiederverwendet werden. Gestorben wird schließlich immer. Auch die Fließtexte werden verwahrt. Sie sind sehr formelhaft und variieren kaum.
„Nach langer schwerer Krankheit verstarb heute mein lieber Mann, unser guter Vater, Schwiegervater, Opa und Onkel…“
Es ist dem Jüngling, als werde in Deutschland nur noch so gestorben, als müsse man zuerst naturgemäß durch die lange schwere Krankheit hindurch wie durch eine schreckliche Ödnis am Ende des irdischen Jammertals.
Wenn er die Texte sicher in die Holzwinkelhaken gestellt hat, zieht er die Stege heraus, das größere Blindmaterial, und sortiert sie in die Regalfächer. Nun kommen die Namen an die Reihe. Sie sind aus der 20 Punkt dreiviertelfetten Futura gesetzt, „Text“. Nettesheim holt die 20 Punkt Futura aus dem Regal und wuchtet sie auf die schräge Abstelle. Alle Schriften von 16 Punkt aufwärts an befinden sich in diesen schmalen Steckkästen, wo sie nach dem Alphabet geordnet aufgereiht sind. Er sammelt aus den Trauerbriefen die Namen der Verstorbenen und stellt sie hintereinander auf den Rand des Setzkastens.

KatharinaKochenHerbertKnaufFerdinandOepenHubertineSchiffer

Zuerst zieht Nettesheim ihnen die Vokale heraus und ordnet sie.

KthrinKochenHerbertKnufFerdinndOepenHubertineSchifferaaaaa
KthrinKochnHrbrtKnufFrdinndOpnHubrtinSchiffraaaaaeeeeeeeee
KthrnKochnHrbrtKnufFrdnndOpnHubrtnSchffraaaaaeeeeeeeeeiiii
KthrnKchnHrbrtKnfFrdnndOpnHbrtnSchffraaaaaeeeeeeeeeiiiiouu

Die Vokale werden eingesteckt. Nun zerlegt und sortiert er das Konsonantenskelett:

KthrnKchnHrbrtKnfFrdnndOpnHbrtnSchffr
KthrKchHrbrtKfFrddOpHbrtSchffrnnnnnnn
KthKchHbtKfFddOpHbtSchffrrrrrrnnnnnnn
KhKchHbKfFddOpHbSchffrrrrrrnnnnnnnttt
KKcHKfFddOpHScffrrrrrrnnnnnnntttbbhhh
KKcHKFddOpHScfffrrrrrrnnnnnnntttbbhhh
KKHKFOpHSccfffrrrrrrnnnnnnntttbbhhhdd
KKKFOpHHSccfffrrrrrrnnnnnnntttbbhhhdd

Weg mit den Konsonanten!
Zuletzt kommen die Initialen dran:

KKKFOHHS

Auf diese Weise begräbt der Jüngling die Toten im Alphabet. Zufrieden besieht er sich die wohl aufgefüllten Reihen. Nun kann man neue Namen setzen und dabei so richtig aus dem Vollen greifen. Es kann wieder neu gestorben werden.

Plötzlich wird er aus seinem Spiel gerissen. Ein Mann mit einer dicken, schwarzledernen Umhängetasche betritt das Glashaus und sagte: „’n Tach!“
Nettesheim zuckt hoch und stotterte einen Gruß.
„Aha, da ist er ja!“ sagt der Taschenmann und schaut den Jüngling durchdringend an. Er tritt auf ihn zu und lässt den Riemen von der Schulter gleiten.
„Dann wolln wir mal!“
Nettesheim fallen alle Sünden ein. O Schande, ein Mann von der Post! Und er steht als Telefonsaboteur da! Es verschlägt ihm den Atem.
Aber der Postmann kümmert sich nicht weiter um ihn. Er schielt nämlich erbärmlich und hat wohl hauptsächlich auf den Telegrafenkasten geschaut. Er beugt sich seufzend hinab, öffnet seine mit Werkzeug wohl bestückte Tasche und holt Schraubenzieher und ein Telefon zum Anklemmen hervor. Es ist aus schwarzem Bakelit und besteht aus einem Hörer, in dessen unteres Ende eine Wählscheibe eingelassen ist. Er öffnet den Telegrafenkasten und starrt in das Kabelgewirr. Der Jüngling fragt sich besorgt, ob sein kreuzweis stehender Blick überhaupt in den Kasten hineinpasse, ob er also mit beiden Augen zugleich hineinsehen könnte oder nur mit einem, dem Führungsauge sozusagen, derweil das andere frei und unbenutzt herumschweifen würde, eventuell um ihn argwöhnisch zu mustern. Er wagt aber nicht, genau hinzuschauen, sondern schielt selbst nur aus den Augenwinkeln hinüber. Er sieht den Postler das Telefon anklemmen und eine Nummer wählen. Grußlos spricht er hinein, stochert mit seinen Elektroschraubenzieher im Kabelgewirr herum, tauscht hier zwei Anschlüsse, fragt nach, tauscht erneut, spricht und lauscht, legte gelb an rot, blau an grün, und tastet sich auf diese Weise mühsam an die ehemalige Ordnung heran. Was Dyckers in zwei Sekunden angerichtet hat, kostet ihn eine gute halbe Stunde. Während dieser Zeit hantiert Nettesheim konfus an seinem Arbeitsplatz herum, angstvoll der Fragen harrend, die nach Behebung des Schadens gewiss auf ihn zukommen werden.
Er will jede Mitwisserschaft ableugnen. Er nimmt sich auch vor, dem Mann genau zwischen die Augen zu schauen, um eine Irritation beim Blickkontakt zu vermeiden. Aber hat er sich nicht längst im höchsten Grade verdächtig gemacht? Als unbelasteter Zeuge hätte er doch Interesse zeigen müssen. So einer hätte gefragt: „Was machen Sie da?“ und neugierig in das offene Gehäuse gelugt, um sich zu wundern, wie es darin aussieht.
Der Telefonmann schraubt das Gehäuse zu. Er ist mit sich zufrieden. Ich komme neuerdings viel herum, denkt er, indem er das Werkzeug verstaut. Früher war ich doch fast nur im Nordbezirk unterwegs. Und heute schon wieder ein Auftrag im Südbezirk! Ich hätte aber an die Plombenzange denken sollen! Wieso war das Ding eigentlich nicht verplombt?
Er schultert die schwere Tasche und will dem Jüngling ein paar ernste Worte sagen. Doch da wird in der Wurstküche der Motor der Kreissäge angeworfen, der Treibriemen nimmt leise wimmernd seine Arbeit auf, und dann werden Knochen gesägt, unzählige Knochen.

Teil fünf

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8 Kommentare zu Jüngling der Schwarzen Kunst – 4 – Metzgergesänge

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