Sie haben Post – vom Starnberger See (1) – viel Watt

Seit zwei Tagen habe ich glücklich ein Radl und kann die hübsche Gegend erkunden. An den ersten Tagen meiner Kur hatte ich mich wie stillgelegt gefühlt. Man wusste noch nicht, welche Belastungen mir zuzutrauen waren und wollte kein Risiko eingehen. Das wiederum hatte in mir nur eines erstarken lassen, nämlich die Idee, ich wäre kaum lebendiger als tot, weshalb ich mich auch viel zu schwach fühlte, erfolgreich gegen die permanente Unterforderung zu protestieren.

Da ich vor dem Wochenende in der Klinik eingetroffen war, dauerte es fast vier Tage, bis ich endlich zum erlösenden Belastungs-EKG gerufen wurde. Denn alles richtet sich hier nach der Wattzahl, die man zu treten im Stande ist. Wer eine bestimmte Wattzahl treten kann, ohne vom Fahrrad-Ergometer zu fallen, bekommt einen ärztlichen Freibrief und darf quasi alles, – außer morden und brandschatzen natürlich. Mit diesem Freibrief in der Tasche fühlte ich mich glatt von all meinen Gebrechen geheilt und habe als erstes der Chefärztin vor Dankbarkeit die Füße geküsst. Zumindest für die Herzpatienten gilt, dass Watt die höchste aller Währungen ist. Beim täglichen Ergometertraining wird also ständig Strom erzeugt, aber er wird leider nirgendwo gespeichert und auch nicht dazu verwendet, den Stromverbrauch der Klink zu senken. In einer durchschnittlichen Trainingseinheit werden von den Patienten etwa 500 Watt erzeugt. Angenommen, es gibt acht Trainingseinheiten am Tag an fünf Tagen in der Woche, 52 Wochen im Jahr, – das ist doch eine Menge Holz, und ich würde die Summe sogar ausrechnen, wenn ich nicht viel zu faul dazu wäre.

Als ich mir eine Anschlussheilbehandlung in Bayern gewünscht hatte, war mir gar nicht klar gewesen, dass ich als norddeutscher Rheinländer im tiefen Bayern ein Exot bin. Hier laufen Leute herum, die nicht ein Wort Hochdeutsch können. Aber in deren Augen bin selbstverständlich ich der Freak. Mir fehlt einiges, um unter Bayern akzeptiert zu werden: der obligatorische Bauch, die Fähigkeit, das seltsame Idiom herauszubringen, das hier für eine Sprache gehalten wird, und die Fleischverfressenheit, die in Bayern zum guten Lebensstil gehört. Natürlich bietet die Klinik auch fleischloses Essen an. Aber es kann schon mal Heringssalat unter „fleischlos“ fallen, weil jeder gute bayrische Katholik weiß, dass Fisch kein Fleisch nicht ist, da er nicht unter das freitägliche Fleischessverbot fällt. An den ersten Tagen hat mir das vegetarische Essen gar nicht geschmeckt und ich schloss daraus, dass bayrische Köche Vegetarier hassen und sie durch fades Essen zu bekehren versuchen. Inzwischen hat sich meine Zunge aber dran gewöhnt, wie sie auch versucht, die Grußformeln: „Servus“ oder „Grüß Gott – wenn du ihn siehst“ sauber hervorzubringen.

Als ich beispielsweise am Samstagmorgen den Waschmaschinenraum aufsuchen wollte, da habe ich vor der Tür tief Luft geholt, bin eingetreten und habe ein forsches „Servus“ in die Runde der waschenden Bayern beiderlei Geschlechts geschmettert. Mein „Servus!“ muss ziemlich überzeugend geklungen haben, hatte sich buchstäblich gewaschen, weil nämlich einer sagte: „Oha! Do kimmt dea Chef!“ Ein Chef bin ich leider ganz und gar nicht, sondern Patient. Das bedeutet, dass jeder in mich hineinpieksen kann, mir Blut abnehmen, mich hierhin oder dahin beordern, und wenn man will, werde ich so lange durch die diagnostische Mühle gedreht, bis noch etwas gefunden wird, was mich zum Dauerpatienten macht. Darum fällt mir immer wieder ein, wie Ambrose Bierce das Wort Diagnose erklärt:

„Diagnose, die – Ärztliche Kunst; besteht darin, den Gesundheitszustand der Börse eines Patienten festzustellen, um zu wissen, wie krank man ihn machen darf.“ (aus: Des Teufels Wörterbuch)

Alle Patienten der Klinik sind leicht zu erkennen, wenn sie sich auch noch so sportlich verkleiden. Sie tragen immerzu den Zimmerschlüssel bei sich, der an einer runden Plakette hängt. Schlägt der Schlüssel gegen die Plakette, bimmelt es. So bimmeln die Patienten allüberall wie die Rindsviecher auf der Alm.

Genug für heute. Servus und mit vielen Grüßen,

Trithemius

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