Wie ich beinahe versehentlich gestorben wäre (5) – Pillen

Der Infarkt ist in jedem Fall ein Einschnitt. Du kannst danach nicht weiter machen wie zuvor, denn du bist durch ihn mit deiner Endlichkeit konfrontiert, begleitet von einem tiefen Misstrauen gegenüber dem eigenen Körper. Das würde sich vermutlich schnell verlieren, aber die Medikamente, die ich morgens und abends nehmen muss, verhindern ein Vergessen und eine Wiederkehr des Selbstvertrauens. Die Medikamente sagen mir, dass ich meinem Körper nur vertrauen kann, wenn ich ihn mit verschiedenen Präparaten diszipliniere.

Ich hasse das. Ich hasse die Medikamentenpackungen, ich hasse die zweifelhaften Versprechungen der Beipackzettel, hasse die Litaneien von unerwünschten Nebenwirkungen. Hasse die exorbitanten Preise. Indem ich täglich schlucke, was mir die Ärzte verschrieben haben, handele ich ständig gegen meine Natur. Und ich weiß nicht, was davon der Preis des Überlebens, was wirklich unumgänglich ist.

Seltsam, im Krankenhaus habe ich die tägliche Ration Pillen widerstandslos geschluckt, habe mir kaum Gedanken darum gemacht, dass ich nicht einmal wusste, was man mir täglich verabreicht hat. An einem Abend war Shhhhh zu Besuch, und als er sah, wie mir die Krankenschwester eine Spritze in den Bauch stach, da zuckte er heftig zusammen, so dass ich ziemlich lachen musste, was mir einen ordentlichen Bluterguss im Bauch bescherte. Krankenhaus und Medikamente, das ist ein plausibler Kontext. Er lässt sich leicht akzeptieren. Aber Medikamentenpackungen zu Hause auf meinem Tisch? Da gehören sie nicht hin, besser, da haben sie nicht hin gehört. Ich muss erst lernen, sie dort zu tolerieren.

Betablocker im Blut, das fühlt sich an, als wäre ich nicht ganz in der Welt, sondern in ein Zwischenreich eingezogen, dessen einziger, einsamer Bewohner ich bin. Etwas Wichtiges ist weg, aber das Bedauern bleibt klein. Betablocker lassen einen völlig unbeteiligt auf die davoneilende rote Schlusslaterne schauen.

Der Allgemeine Deutsche Sprachverein (heute: Gesellschaft für deutsche Sprache) hat nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten exzessive Fremdwortjagd betrieben. Sein Eindeutschungsvorschlag für „Apotheker“ lautet:
Gesundheitswiederherstellungsmittelzusammenmischungsverhältniskundiger. Das absurd lange Kompositum wirft zumindest heute die Frage auf, ob Apotheker korrekt übersetzt ist, ob nämlich Medikamente die Gesundheit wiederherstellen, oder ob sie nur die Krankheit eindämmen, ob sie geeignet sind, einen Kranken zu heilen oder ob sie aus einem Menschen dauerhaft einen Patienten machen, weil unsere Schulmedizin mit Hilfe von Arzneimitteln die Symptome bekämpft und nach den Ursachen nicht fragt. Ich will nicht meckern, denn ich habe dank ärztlicher Kunst einen Herzinfarkt überlebt. Morgen trete ich die Medizinische Rehabilitation (Reha) an, zu deutsch: die Anschlussheilbehandlung. Ich hoffe auf Gesundheitswiederherstellung und Heilung.

Bis dann. Wir lesen uns.

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