Mich trifft der Schlag (4) – Nachtmahr unterm Kreuz


Zwölf Quadratmeter
Himmel habe ich von meinem Krankenbett vor Augen. Er ist durch zwei Fensterkreuze gegliedert. In der Nacht wirft das mittlere schmale Fensterelement durch den Vorhangspalt ein dickes Kreuz aus Licht an die Zimmerdecke. Das kann kein Zufall sein. Das Krankenhaus ist in evangelischer Trägerschaft. Was gläubigen Christen ein Trost sein mag, wird mir zum Alpdruck. Ich wälze mich unterm Kreuz hin und her, und jedes Mal wenn ich unvorsichtig zur Zimmerdecke blinzle, wird eine weitere heidnische Identität von mir erzeugt und fällt auf mich zurück.

Als der Morgen herandämmert, lastet die fünffache Erdschwerkraft auf mir. Fünf G drücken mich in die viel zu weiche Matratze, die sich perfider Weise wie Sumpf an mir festsaugt, so dass ich mich kaum noch rühren kann. Aber gleich, sobald die Lampe vor meinem Fenster verlischt und mit ihr das Kreuz an der Zimmerdecke, werde ich mir vom „frühen Frühdienst“ (ja, den gibt’s) aufhelfen lassen, damit ich in der Morgendämmerung umherstreifen und meine Zähne in weiche Hälse schlagen kann, Hehehehe! Ich lechze! Aber ach, wie mich der Gedanke mit dem nächtlichen Alp versöhnt, wie ich von zarten weißen Hälsen und elegant geschwungenen Nackenlinien schöner Frauen träume, fällt mir ein, ich bin ja gar kein Vampir, sondern beinah das Gegenteil, nämlich Vegetarier. Vertan! Und gerade noch rechtzeitig gemerkt, bevor ich mich unbeliebt mache. Also werde ich später nur in Frühstücksbrötchen beißen. Derweil fallen die heidnischen Identitäten von mir ab. Die Waage draußen zeigt: Ich bin drei Kilogramm leichter als zuvor. Um mich auf die Waage stellen zu können, muss ich eine ganze Phalanx von Rollatoren beiseite räumen, die hier nächtens geparkt ist. Dabei verliere ich beinah das Gleichgewicht. Das wäre es noch, dass ich mir an einer Übermacht von Rollatoren den Hals breche, nur weil ich in Zahlen wissen will, wie viel von mir noch da ist.

Dafür sollten sich Eisenbahnerfrauen interessieren: Killer-Rollatoren – Foto: Trithemius

Die Wahrheit ist: Mein Bettnachbar hat in der Nacht fürchterlich geschnarcht. Daher meine Aggressionen nah am Blutrausch. Er ist ein pensionierter Eisenbahner und bei Tag recht umgänglich. Oft bummele ich mit ihm übers Klinikgelände und fotografiere die alten Gebäudeteile in aufwändiger Backsteingotik und unseren Klinikalltag. Als ich meinem Bettnachbarn anbiete, ihm einige Fotos zu schicken, sagt er: „Ach, nein, das interessiert meine Frau nicht.“ Na sowas! Ich bin sicher, unsere Welt wäre um einiges besser, wenn Eisenbahner eigene Interessen hätten und Ehefrauen von pensionierten Eisenbahnern sich mehr für meine Fotos interessieren würden, wenngleich ich zugeben muss: Es gibt schönere Fotos. Aber woher will sie das wissen?

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