Grüß Gott, hier ist ein Brillenstudio – Trithemius in München

Honeckers späte Rache

Kaum ist die Republik aus der Kältestarre erwacht, geht’s drunter und drüber. „AUS!“ (BILD) für Schnorrerpräsident Christian Wulff. Mit drei fetten Buchstaben macht BILD Platz im Schloss Bellevue („RAUS!“ hätte besser gepasst) und setzt am nächsten Tag Joachim Gauck ein. Gauck? Wer zum Teufel will denn den neoliberalen Schwätzer Gauck, der sich von Frau Merkel fälschlich als „Bürgerrechtler“ bezeichnen lässt, aber bei der Stasi als IM Larve geführt wurde? Da will ich am Dienstagmorgen Semmeln holen, präsentieren mir die Präsidentenmacher von BILD schon „Unsere neue First Lady!“ Hoppla, das ging aber schnell. Muss mich Honeckers späte Rache ausgerechnet in einer Münchner Bäckerei ereilen, wo ich noch schlaftrunken einen Kaffee trinken und allenfalls ein bisschen Alltagsethnologie betreiben will? Kann man nicht warten, bis ich wieder zu Hause bin und Zeit habe, die aberwitzigen Entwicklungen zu verfolgen?

Und muss der falsche Apostel Gauck nicht zuerst noch gewählt werden? Oder reicht es, wenn BILD ihn auf der Titelseite ins Amt jubelt? Da hilft bei der Entschleunigung der dubiose CSU-Politiker Norbert Geis und fordert, Gauck müsse Lebensgefährtin Daniela Schadt zuerst einmal heiraten. Ein Präsidentenpaar in wilder Ehe gehe ja nun gar nicht. Das lässt hoffen. Eine Heirat würde die erbärmliche Wahl einige Wochen hinauszögern. Eigentlich hätte BILD titeln müssen: „Unsere wilde First Lady in Spe“ Aber das hätte die Frage aufgeworfen, ob sie auch tätowiert ist. Das würdelose Getute und Geblase um die Wulffs hat es möglich gemacht. Schon deshalb wäre Zeit bis zur Kür eines neuen Bundespräsidenten angebracht. Aber wo BILD einmal hinlangt, wächst kein Gras mehr.

Was nicht in BILD steht: Der Lebensgefährte der Bäckereifachverkäuferin ist am Rosenmontag nach Köln geflogen, um sich in das Karnevalstreiben zu stürzen, und heute Morgen hat sie wirklich schlechte Laune. Ist er am Ende im Trubel versackt, obwohl ich ihm Sonntagmorgen gesagt hatte: „Viel Spass in Köln, und kommen Sie nicht unter die Räder!“ Wir werden es nicht mehr erfahren, denn am Abend muss ich abreisen. Aber langsam und einige Schritte zurück: Jeden Morgen bin ich in dieser Bäckerei gewesen, habe, die Zeitungstitel im Regal vor Augen, zum Käsebrötchen einen Kaffee getrunken, weil ich nämlich ein verfluchter Frühaufsteher bin, meine Gastgeberin aber ausschlafen will. Da habe ich Zeit für müßige Gedanken und Studien Münchner Lebensart.

Verkäufer in einer Bäckerei dürfen ihre Kunden nicht nach dem äußeren Anschein beurteilen, besonders samstags und sonntags nicht, wenn sie mit Bettfrisur, ungewaschen und ein bisschen verlottert in den Laden kommen. Eine hagere alte Frau beispielsweise. Trotz ihres schwarzen Stocks kann sie kaum gehen, weshalb ihr alles gebracht und in die Einkaufstüte gepackt wird, derweil der Bäcker in einem unverständlichen Idiom mit ihr plaudert. Eines verstehe ich aber. Wie sie auch noch eine Flasche Helles haben will, sagt er fürsorglich: „Du wolltest doch nicht mehr soviel saufen, Anna!“

Zurückgeblieben!

„Hier geht es ziemlich familiär zu“, sage ich nachher zu ihm. Er bestätigt: „Ja, es ist hier wie auf dem Dorf“ und ergänzt, was mir verschiedene Gewährsleute schon mitgeteilt haben, dass München eine Ballung von Dörfern sei. Für den Zusammenhalt haben die Münchner eilige Füße, protzige Kleinwagen, Busse, eine putzige blaue Tram und ein bestens verknüpftes S-Bahn-U-Bahnnetz mit einhundert Bahnhöfen. Bevor eine U-Bahn der Münchener Verkehrsgesellschaft (MVG) abfährt, ruft eine Stimme: „Zurückbleiben!“ Man kann kaum verhindern, einmal auf der Schwelle von diesem Befehl erwischt zu werden. Dorfbewohnern sagt man ja nach, sie wären ein bisschen zurückgeblieben. Doch muss die MVG die Münchner ständig zum Zurückbleiben auffordern? Das grenzt an Gehirnwäsche, ist aber offenbar nötig, denn einmal am Tag muss jeder Münchner, jede Münchnerin sich zum Marienplatz begeben und sinnlos am prächtigen Rathaus vorbeilaufen, weshalb da ein unfassbares Gerenne ist. Überhaupt ist das Herumrennen üblich. Wer steht, ist fremd und befragt seine Smartphone-Apps, in welchem Riesendorf er gerade ist, wohin er will und welche U-Bahn hinfährt.

Münchner Kleinwagen – Foto: Trithemius

Münchner U-Bahnbenutzer zerfallen in zwei Klassen, in solche ohne und solche mit Smartphone. Letztere erkennt man am gesenkten Kopf und an nervöser Touchscreenfummelei. Unglaublich, da fährst du mit 80 Stundenkilometern 36 Meter unter dem Odeonsplatz durch die Erde und hast Mobilfunkempfang, falls du auf höhere Anordnung nicht zurückbleiben musstest, versteht sich. Wer technisch zurückgeblieben ist, muss sich mit Infotainment aus dem Fahrgastfernsehen begnügen oder eben seine Neugier auf die Umgebung richten. Aber aufeinander zu achten, ist keine adäquate Verhaltensweise für die Unterwelt. Anders als in den Münchner Dörfern herrscht auf den Verkehrslinien großstädtisch stierende Gleichgültigkeit. Das lässt sich auf die ganze Republik beziehen, gilt generell für die Verkehrslinien und für alle Formen der öffentlichen Personenbeförderung, beginnend beim Fahrstuhl, ist mir aber in München erst recht aufgefallen. Diese Gleichgültigkeit fordert auch ein U-Bahnführer ein, als er einen potentiellen Fahrgast per Lautsprecher anbelfert: „Wenn’s hinter der Tür zu voll ist, dann nehmen’s halt die andere Tür!“ Denn er weiß auch, dass Münchner in den Eingangsbereichen der U-Bahnwagen grundsätzlich keinen Platz machen.

Münchner Frömmelei

Fahren wir über die 52,8 Meter lange Fahrtreppe vom Bahnhof Odeonsplatz 26 Meter nach oben, links gehen, rechts stehen. Was hat diese Stadt prächtige Bauwerke und Kirchen zuhauf. Die Kirchen reihen sich sogar in Häuserzeilen ein, als hätten sie sich nachträglich mit dem Hintern hineingezwängt. Am Sonntag höre ich in der Früh ihr Geläut. Es fliegt vermutlich von den Türmen der Frauenkirche heran, und unterwegs stimmen andere Kirchtürme liebedienerisch ein, als litten sie unter Echolalie. Diese akustische Machtdemonstration der katholischen Kirche hängt noch eine ganze Weile selbstverständlich über der Stadt. Schließlich hat München, eigentlich Mönch(en), sogar einen Papst hervorgebracht, der jetzt quasi auf du und du ist mit dem Herrgott persönlich.

Zurückgebliebener Mann und Rolltreppe am Odeonsplatz – Foto: Trithemius

Das Münchner Fußvolk muss alleweil Gott grüßen. Ich habe mich darin geübt und höflich gesagt: „Grüß Gott, ich hätte gern ein halbes Pfund Bigotterie!“
„Grüß Gott, aber das hier ist ein Brillenstudio!“
Da sucht sich eine junge Frau eine teure Brille aus, die nach eigener Aussage gar keine braucht, aber eine will, weil es doch so stylisch ist, eine zu tragen. Man ist in München halt ziemlich versnobt. Der vermeintlich fromme Gruß „Grüß Gott“ hat inzwischen einen Bedeutungsverlust erlitten, ist nur noch die höfliche Variante des um sich greifenden „Hallo!“ Fast alle unsere Grußformeln sind ehedem fromme Wünsche gewesen: „Guten Tag!“ ist die verkürzte Form von „Gott gebe dir einen guten Tag“, „Adieu“ oder seine verschliffene Form „Tschüs!“ bedeutet eigentlich „zu Gott“ oder „gottbefohlen“. Eine neue Variante von „Adieu“ höre ich bei der Rückfahrt im ICE. „Tschöhös!“ sagt da eine junge Frau mehrfach in ihr Mobiltelefon. Aber so weit sind wir noch nicht.

Mund voll Wasser, Mund voll Sand

Zuöhörst fahren wir zur Altstadt, nach Lehel, und bummeln unter einer kalten Sonne durch den verschneiten Englischen Garten. An seinem südlichen Rand erhebt sich brutale Naziarchitektur. Da steht das Haus der Kunst, in dem auch die Prominentendiskothek P1 untergebracht ist, benannt nach der Hausnummer 1 in der Prinzregentenstraße. Karnevalistisch verkleidete Kinder stolpern an der Hand versnobter Mütter über die lange, vereiste Zufahrt. Sie ist von schwarz gekleideten Wachleuten gesäumt. Es ist Kinderfasching im P1.

Unmittelbar daneben braust der glasklare Eisbach unter einer Brücke hervor und bildet sogleich eine stehende Welle. Zwei Surfer in dicken Neoprenanzügen tummeln sich darin, gleiten auf der Welle, stürzen sich hinein, verschwinden im schäumenden Wasser, tauchen wieder auf, retten sich ans Ufer, holen ihr Surfbrett ein, um sogleich wieder auf der Welle zu reiten – bei minus zwei Grad ein seltsames Vergnügen. Wir bummeln über die in der Sonne auftauenden, schlammigen Wege in den Englischen Garten und steigen auf zum Monopteros, einem 16 Meter hohen Rundtempel, der sich auf einem 15 Meter hohen künstlichen Hügel erhebt. Von hier hat man einen schönen Ausblick auf die Schönfeldwiese, wo bei höheren Temperaturen die Nackerten von München zu besehen sind, vor denen nach Edmund Stoiber der Staat den Kopf in den Sand steckt:

„Eines zu den Nackerten: Einmal werden hier ständig Rechtsverletzungen gemacht. Aber wie soll der Bürger denn in diesen Staat wirklich das massive Vertrauen haben, wenn der Staat letzten Endes vor den Rechtsbrüchen hier immer sozusagen den Kopf in den Stand steckt, und sagt: Ich kann es nicht ändern? “

Wir wischen uns den Sand aus dem Mund, treten die Schuhe ab und gehen zurück durch das herausgeputzte Schwabing, das längst kein Künstlerviertel mehr ist, sondern gänzlich gentrifiziert. Hier trägt man die Nasen so hoch, dass es bei schlechtem Wetter hineinregnet, weshalb wir Schwabing noch nicht einmal ignorieren, sondern sogleich die nächste U-Bahnstation aufsuchen und nach Hause fahren. Gepackt habe ich schon. Wir kaufen zwei Faschingskrapfen und machen uns bei Kaffee und Krapfen die verbleibenden Stunden gemütlich. Der Dienstag ist der Höhepunkt des Münchener Faschings. An den anderen Tagen ist jeder Hundertste notdürftig verkleidet, am Dienstag jeder Fünfzigste. Der Straßenkarneval im frommen München ist deutlich zurückgeblieben. Dagegen ist selbst das steife Hannover ein karnevalistisches Sündenbabel.

EPILOG: Am Rosenmontag habe ich meine liebe Gastgeberin ein wenig von mir entlastet und am Marienplatz meinen Blogfreund Careca getroffen. Wir kennen uns jetzt fünf Jahre, haben schon einmal in Aachen im Café Egmont zusammen gesessen, und jetzt gehen wir zum ‚Augustiner am Dom’ nahe der Frauenkirche. Hier ist es leider ziemlich laut, so dass uns die Unterhaltung schwer fällt. Careca weiß etwas, was ich noch nicht weiß, dass nämlich der scheinheilige CDU-Pfarrer Hintze den Christian Wulff durch seine Schwafelei anscheinend ungewollt ans Messer geliefert hat. Da hat der liebe Gott wohl von Lug und Trug die Nase voll gehabt. Was wir sonst noch redeten, weiß ich nicht mehr. Es ging im Lärmen der übrigen Gäste unter. Careca hat wohl auch nicht viel behalten und einen Albtraum aus unserer Begegnung gemacht. Ich kann aber versichern: so war es nicht.

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