Von den Problemen der veröffentlichten Alltagsethnologie

Vor einigen Jahren recherchierte ich in einem Dorf im Rheinland. Wir nennen es Kirchspiel. Ich wollte die kleinen Geschichten der Menschen dieses Dorfes aufschreiben. Es hatte nur 240 Einwohner; das schien mir überschaubar zu sein. Der Ortsvorsteher war schnell begeistert, und nachdem er die Zustimmung der beiden Gutsbesitzer am Ort eingeholt und ein wenig meine Vergangenheit erforscht hatte, gab er mir den Schlüssel zur alten Pfarrei, wo ich hinfort nach Belieben übernachten konnte. Ich stellte mein Klappbett in der alten Bücherei im Erdgeschoss auf, hatte da Tisch und Stuhl, eine Stehlampe und ein funktionierendes Telefon mit 3-stelliger Nummer. Es war seltsam, zwischen den Regalen einer aufgegebenen Bücherei zu sein. Sie standen entlang der beiden Innenseiten des Raums und waren völlig gefüllt. Nicht ein Buch schien zu fehlen, und wollte man eines herausnehmen, so klebten die Bücher mit ihren Folienumschlägen aneinander, so dass die Bücher der Reihe sich vorwölbten, bevor sie eines der ihren freigaben.

Der Ortsvorsteher führte mich in viele Häuser ein. Bald war ich im Dorf bekannt wie ein bunter Hund, und fast jeder war bereit, mir aus dem Leben und von seinen Erfahrungen zu erzählen. Ich war voller Euphorie und verbrachte jede freie Minute im Dorf. Samstags morgens wurde ich einmal von der Straße weg zum Frühstück eingeladen, bei einem Dachstuhlzimmerer. Er hatte im Ort neu gebaut, sein großes Wohnhaus und einige Hallen. Aber von ihm erfuhr ich, dass gerade solche Neubauten ein Zankapfel im Dorf wären. Mir wurde rasch klar, dass viele scheinbar arglose und hübsche Geschichten im Kontext sozialer Beziehungen eine unschöne Tiefendimension hatten.

Nach einer Weile sagte ich dem Ortsvorsteher, meine Idee, aus den Geschichten ein Buch zu machen, könne ich leider nicht verwirklichen, denn viele der Geschichten würden den Zank im Dorf weiter schüren. Er verstand mich gut, erzählte auch von einer Chronik, die der Dorfschullehrer bis zur Auflösung der Schule im Jahre 1970 geführt hatte. Diese Chronik hatte er mir schon zu Beginn meiner Recherche ausgehändigt. Der Lehrer hatte getreulich alles aufgeschrieben, was er über einzelne aus dem Dorf in Erfahrung bringen konnte, wann, wo und als was sie etwa eine Lehre angetreten hatten, welche Noten sie bei der Gesellenprüfung erreicht hatten und so fort. Die Chronik war von Hand zu Hand im Dorf herumgereicht worden. „Und stellen Sie sich vor“, sagte der Ortsvorsteher entrüstet, „da hatte der auch die Bilanzen meines Hofs aufgeschrieben.“

Hier vier anonymisierte „Kleine Geschichten“.
1 Kirchtürme sehen
2 Das ist die moderne Zeit
3 Das Trafohaus widersteht
4 Knecht und Herr

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