Dieser verfluchte Jetlag

Nachts um 3 Uhr bin ich hellwach und habe nichts Besseres zu tun, mich an den Rechner zu setzen und meine späteren Erinnerungen aufzuschreiben. Wegen dieser „zirkadianen Schlaf-Wach-Rhythmus- und einer daraus resultierenden unspezifischen Persönlichkeitsstörung werde ich heute Mittag einen Arzt aufsuchen. Seine aparte Sprechstundenhilfe bittet mich in den Wartebereich. Eine Sitzgruppe aus bequem aussehenden schwarzen Sesseln ist mit drei Patienten besetzt. Ich setze mich auf eine schwarze Ledercouch. An der Wand vor mir hängt ein großer Bildschirm, auf dem in einer Endlosspule der Arzt so genannte Igel-Leistungen anbietet, schmerzhafte Behandlungen mit Laserstrahlen, heißen Steinen, tausend Jahre alten Nadeln und dergleichen. Keiner blättert in einer Zeitschrift. Alle schauen Wartezimmerfernsehen.

Als zum fünften Mal der Werbeblock eines Pharma-Unternehmens kommt, in dem glückliche Menschen die Segnungen ihrer Medikamente preisen, wird eine Dame ungeduldig, steht auf und beschwert sich bei der Sprechstundenhilfe, dass es nicht vorangehe. Wenig später kommt der Arzt, ein Dr. Asiz, und fragt die Dame nach ihrem Problem. Dann deutet er mit großer Geste auf mich und sagt: „Sehen Sie diesen Herrn? Ein h o c h r a n g i g e r Politiker der interstellaren Konföderation! Trotzdem wartet er geduldig!“

Ich bin froh, mein Verhalten den hiesigen Bräuchen angepasst zu haben, dass es hienieden sogar als beispielhaft gepriesen wird. Es wird zu Hause meine diplomatische Karriere günstig beeinflussen. Außerdem habe ich viel Zeit. Schließlich bin ich schon seit drei Uhr nachts auf.

Viel später sitze ich Dr. Asiz gegenüber. Ich sage: „Entschuldigen Sie, Dr. Asiz, kennen Sie sich mit meinem Metabolismus aus? Ich bin vermutlich kein Igel.“
Er mustert mich kurz und entgegnet: „Ich halte mich an den Grundsatz: ‚Wenn etwas aussieht wie eine Ente, watschelt wie eine Ente und quakt wie eine Ente – dann ist es eine Ente!“
Ich schaue mich irritiert um: „Aber es geht hier wohl um Humanmedizin?“
„Aber natürlich, die Ente ist nur ein Beispiel, das illustrieren soll, dass ich mich nach dem Augenschein richte. Hihi!“
„Ach ja? Woher wollen Sie wissen, dass ich keine kleine, grüne Ente bin, die sich einen menschlichen Körper quasi angezogen hat und damit herumläuft?“
„Woher wissen Sie, dass es bei mir und den Leuten ringsum anders ist?“
Ich bin verblüfft. Dr. Asiz springt auf: „Ich muss weg! Ein Notfall, verstehen Sie? Setzen Sie sich nebenan in die Küche! Da wartet eine Kollegin von mir. Und es gibt Gebäck zum Kaffee.“

Die „Kollegin“ ist eine attraktive junge Frau. Sie hat unter ihrem weißen Arztkittel die oberen Knöpfe ihrer Bluse aufgemacht und gibt den Blick frei auf den Ansatz eines vollen Busens. Freilich erinnere ich mich sogleich an Dr. Asiz Worte und kann mich der Vorstellung kaum entziehen, dass in dieser glutvoll schönen Frau ein hässliches, grünes Entenwesen steckt und sie steuert. Das für menschliche Verhältnisse gewiss uralte Wesen schaut mich durch hellblaue Augen fragend an.

Ich sage: „Dr. Asiz hat mich geschickt. Ich bin ein hochrangiger Politiker der interstellaren Konföderation und habe eine unspezifizierbare Schlaf- und Persönlichkeitsstörung.“ Sie reckt ihre kaum gebändigten Brüste und schaut verwirrt. Das Entchen hat keine Ahnung.
„Wie äußert sich die Persönlichkeitsstörung?“
„Ich bin zur Unzeit verrückt nach Weihnachtsgebäck, besonders nach diesen Lebkuchen auf Oblaten.“
„Was ist daran so schlimm? Bedienen Sie sich!“ Sie beugt sich vor zum Couchtisch, lässt tief blicken und reicht mir die Schale mit Gebäck.
„Sie wissen schon, dass es von hier bis in den hintersten Winkel von Beteigeuze nirgendwo anders diese prallen, halbkugeligen Lebkuchen auf Esspapier gibt?“
„Ja, aber etwas in mir sagt, dass diese Gier nach Lebkuchen die menschliche Einkleidung eines tiefer sitzenden Problems ist.“
„Genau! Die Wahrheit ist: Ihr kosmisches Dekolleté haut mich um!“
„Ich kann Ihnen auch eine langen, dann passts!“

So geht es alleweil zu bei mir. Es ist dieser verfluchte interstellare Jetlag.

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