Konnotationen² – über die Bildwerte unserer Schrift

Zum Einstieg in ein faszinierendes Thema ist ein wenig Theorie nötig. Ich muss das mal aufschreiben, um mir selbst freie Sicht zu verschaffen auf ein weitgehend unbeackertes, großes Feld. Lange habe ich mich gewundert, dass die Linguistik sich selten bis nie mit bildhaften Aspekten der Schrift beschäftigt. Heute weiß ich, woran es liegt. Die Vernachlässigung geht auf den Vater der strukturalistischen Linguistik, Ferdinand de Saussure, zurück. Für Saussure ist die Schrift ein sekundäres Zeichensystem und hat sich nicht einzumischen, wenn Erwachsene sich mit dem primären Zeichensystem Sprache beschäftigen.

Das ist nicht logisch und klammert einige Bereiche der Sprachuntersuchung aus, besonders weil die Beschäftigung mit Sprache meist schriftlich geschieht, bzw. vermittelt wird. Saussure beklagt die „Tyrannei der Buchstaben“ und gibt dazu ein Beispiel, wie die Form der Schrift sich bedeutungsverändernd in die Sprache einmischt.

„Viele Leute unterliegen dem Eindruck des Geschriebenen, und so beeinflusst und modifiziert es die Sprache. (…) So gab es für den Familiennamen Lefèvre (von lateinisch faber) zwei Schreibungen: eine einfache und populäre Lefèvre, und eine gelehrte und etymologische Lefèbvre. Infolge der Gleichheit von v und u in der alten Schrift wurde Lefèbvre als Lefèbure mit einem b, das in Wirklichkeit in diesem Wort niemals vorhanden war und einem u, das aus der Doppeldeutigkeit hervorgegangen ist, gelesen. Aber jetzt findet man diese Form wirklich in der Aussprache.“ (zitiert nach Derrida; „in der alten Schrift“ ist offenbar ein Übersetzungsfehler, gemeint ist die römische Capitalis, von der die Großbuchstaben der Antiqua abstammen.)


„Lovis-Corinth-Tafel München“ von Lecartia – Eigenes Werk. Lizenziert unter Creative Commons Attribution-Share Alike 2.5 über Wikimedia Commons (größer: klicken)

Der Maler Franz Heinrich Louis Corinth pflegte seine Bilder ebenso mit dem römischen Halbvokal V=LOVIS zu signieren, woraus die vom Maler akzeptierte Aussprache Lovis wurde.
„Wo ist das Problem?“ fragt der Dekonstruktivist Derrida in seiner ‚Grammatologie.‘ Für Saussure sind solche Prozesse des Sprachwandels eine Anmaßung der Schrift gegenüber der Sprache, weshalb er sie von den wissenschaftlichen Sprachuntersuchungen ausschließt. Folgsam hat sich die Linguistik Jahrzehnte fast ausschließlich mit seinem Phantasieprodukt „Sprache“ beschäftigt, aber ihr Werkzeug „Schrift“ ignoriert. Das Beispiel Saussures trifft den Sachverhalt – Anmaßung der Schrift gegenüber dem Laut – auch gar nicht, denn die amtlichen Familiennamen sind ja gerade eine Erscheinung der Schrift, warum sollten schriftspezifische Eigenarten sich hier nicht auswirken dürfen?

In den 1950er Jahren startete der amerikanisch-polnische Altorientalist Ignace Gelb mit seinem Werk ‚A Study of Writing‘ den zaghaften Versuch, eine Schriftwissenschaft zu etablieren, von ihm Grammatologie genannt, blieb aber damit bis in die 1980er Jahre ein Exot.

Die Linguistik unterscheidet bei einem Wort Denotation, seine lexikalische Bedeutung, und Konnotation, die Gefühlswerte und Assoziationen, die ein Sprecher/Hörer mit dem Wort verbindet. Der Leser ist entsprechend dem Verdikt von Saussure ausgespart. Typographen und Kalligraphen wissen, dass die Form der Buchstaben ebenso Gefühlswerte und Assoziationen vermittelt. Es gibt für die schriftlich zu vermittelnden Inhalte passende und unpassende Schriften. Es ist ein Unterschied, ob

liegen oder umgekehrt, also nicht weiche Männer in harten Betten oder harte Betten in weichen Männern, sondern bei gleichem Bedeutungsinhalt die Schriften ausgetauscht werden. Der Klarheit wegen will ich bei Konnotationen der Schriftform von Konnotationen² schreiben, wenn also die flächigen Wirkungen gemeint sind. Jeder empfindet die Konnotationen² beim Anblick einer Handschrift, weil sich in der expressiven Gestaltung die Person des Schreibers zu spiegeln scheint. Auch hier lässt sich mit Mehrfachbedeutungen spielen, um die Aussage kräftiger zu machen, wie die wunderbare handschriftliche Zeile der Blog-Kollegin Phyllis zeigt:

(Phyllis Kiehl; „Komplett irrationale Notate, ff“ – größer: klicken)

Bei den von jeder Expressivität gereinigten Druckschriften sind Konnotationen² weniger augenfällig, zumal ein Abstumpfungsprozess durch häufiges Lesen entsteht. Trotzdem sprechen wir auch hier von Schriftcharakter. Der Wechsel der gewohnten Schrifttype offenbart, wie sehr auch der Schriftcharakter das Lesen prägt und Bedeutungen mitschwingen lässt, die nicht im Text angelegt sind.

„Am 1. Mai 1992 stellte die deutsche Wochenzeitung DIE ZEIT ihre Brotschrift um, von der 46 Jahre lang benutzten Garamond, benannt nach dem Schriftschöpfer Claude Garamond (um 1480-1561), auf die Times New Roman. Damit wandte man sich vom leichten, hellen, französischen Schriftcharakter, der lange Zeit das stilistische Ideal der kontinentalen Geisteswelt verkörperte, hin zu den bodenständigen, handfesteren Idealen der neueren angelsächsischen Typographie. Das haben viele ZEIT-Leser nicht nachvollziehen wollen, wie die unzähligen Protestbriefe auf den Leserbriefseiten zeigten. Nach etwa zwei Jahren kehrte DIE ZEIT reuevoll zu einem Neuschnitt der Garamond zurück.“
(aus JvdL: Times New Roman – Einfach, mannhaft, englisch)

Der Kunstwissenschaftler und polyglotte Blog-Kollege Merzmensch berichtete mir nach einer internationalen Tagung über den MERZ-Künstler Kurt Schwitters im hannöverschen Sprengelmuseum von den Problemen, das typographische Bilderbuch „Die Scheuche“ von Kurt Schwitters, Käthe Steinitz und Theo van Doesburg ins Englische zu übersetzen. Übersetzen ist hier das richtige Verb, denn die Scheuche hatte Schwitters ausschließlich mit typographischem Material aus der Setzerei des Schriftsetzers Paul Vogt gesetzt. In seinem Blog hat Merzmensch die deutsche und englische Fassung verglichen und mir freundlicher Weise die Übernahme gestattet:

Freund Merzmensch schreibt: „Der BierBäuchige Bauer BreitBeinig stehend – was kann so eine Figur [nicht] besser personifizieren, als B?“ und weiter über die englische Übersetzung: “The Farmer on his Flimsy Feet doesn’t Fit so really in the Schwitters‘ concept. But how you would translate it else? Dieser Bauer sieht absolut unpassenderweise nach einem Gentleman aus… Ja, Merzmensch, weiss es nicht, wie man typographische MERZ-Werke übersetzen soll. Vielleicht ist es unmöglich?“

Schon im Barock waren Spiele mit den Bildwerten der Buchstaben beliebt, im Zuge der Begeisterung für die ägyptischen Hieroglyphen. In der Folge der Hieroglyphik wurde das Rebus populär, die Verknüpfung von Bild und Buchstabe. Von diesen Ideen habe ich mich leiten lassen, als ich einmal einer 10. Klasse im Kunstunterricht die Aufgabe stellte, die Schwitters-Groteske: „Es ist ein Unglück geschehen“ typographisch und durch Bild-Text-Kombinationen umzusetzen. Ich selbst übernahm auch eine Textpassage,

wurde aber von einer Schülerin genial abgetrumpft (Bild unten). Die Zeichnerin Monika Thorwart hat später in Köln Kunst studiert und arbeitet heute als bildende Künstlerin.
Mehrfachcodierungen (Größer: klicken)

Uff. Wir blicken auf. Nach diesem Streifzug durch beinah unerforschtes Land ist eine genauere Sichtung angebracht. Beginnen wir mit einfachen Spielereien – beispielsweise wie ein Wort für eine Person stehen, (bzw. umkippen kann). Dem Linguisten rollen sich die Fußnägel hoch. Trotzdem will ich dazu anregen, etwas Ähnliches zu gestalten und zu reflektieren, was da geschehen ist. Es muss nicht unbedingt bewegte Typografie sein.

Konnotationen² erschweren grundsätzlich die Akzeptanz von Orthographiereformen. Dazu demnächst mehr.

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20 Kommentare zu Konnotationen² – über die Bildwerte unserer Schrift

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