Ich bin jung und brauche das Geld – Nützliches und Unterhaltsames über den Kettenbrief


„Ich glaube nicht daran, aber was will man machen: Ich bin jung und brauche das Geld…….“,

schrieb mir vor Jahren ein Kölner Geschäftspartner. Und er sandte mir im Anhang der E-Mail jenen Kettenbrief, der jedem Versender einen ordentlichen Batzen Geld von Bill Gates verspricht. Bill Gates will nämlich sein Vermögen verteilen. Man muss nur „hier!“ rufen. Also, es geht um viel Geld. Doch der Kettenbrief ist eigentlich religiösen Ursprungs.

Der Kettenbrief gehört zu den religiösen Mechanisierungen des Gebetes, deren höchste Steigerung in der Gebetsmühle der buddhistischen Tibetaner mit der Formel ‚Om mani padme hum’ vorliegt. Hier handelt es sich darum, ein kurzes Gebet oder einen harmlosen Spruch durch Versendung zu verbreiten, so dass die Gebetskette nicht unterbrochen wird, womöglich um die Erde herumläuft. (Bächtold-Stäubli; Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens)

Die Gebetsmühlen tragen auf rundum aufgebrachten Streifen ein Mantra, beispielsweise „Om mani padme hum“. Man muss sie nur menchanisch betätigen, alles andere macht die Gebetsmühle selbst. Wenn nun also ständig jemand die Gebetsmühle dreht, ist es insgesamt ein unendliches Gebet. In diesem Sinne ist der weltumlaufende Kettenbrief auch ein ewiges Gebet. Angebetet wird neuerdings der Gott Mammon.

Die christliche Vorform des Kettenbriefes ist der Himmelsbrief
Himmelsbrief 1) Er ist quasi die göttliche Luftpost, eine Offenbarung, die vom Himmel gefallen ist. Zeitweise sind Himmelsbriefe in so großer Zahl gefallen, dass sie zur Plage werden. Gegen falsche und verderbliche Himmelsbriefe mit angeblich göttlichen Weisungen wendet sich schon Karl der Große in seiner Admonitio generalis (Allgemeinen Ermahnung) von 789. Solche Werke sollten nicht gelesen, sondern verbrannt werden, damit sie das Volk nicht mit Lug und Trug bedecken. Einen Himmelsbrief besaß zu jener Zeit auch Aldebert aus Gallien, der schon zu seinen Lebzeiten vom Volk als Heiliger verehrte wurde, den der Hl. Bonifatius aber einen „betrügerischen Geistlichen, Irrlehrer, Schismatiker, Diener des Satans und Vorläufer des Antichrists“ nannte. Aldebert, dem besonders viele Frauen nachliefen, dessen Nägel und Haare von seinen Anhängern als Heiligtümer verteilt wurden, verfügte über ein Schreiben von Jesus Christus selbst, das in Jerusalem vom Himmel gefallen und vom Erzengel Michael aufgehoben worden sei.

Zu den von Kaiser Karl verdammten Briefen gehört auch der Himmelsbrief Christi über die Heilighaltung des Sonntags. Er ist gegen Ende des 6. Jahrhunderts erstmals urkundlich erwähnt und bis ins 20. Jahrhundert belegt. Angeblich wurde er in Jerusalem am Effrem-Tor gefunden und von Hand zu Hand weitergereicht, bis er nach Rom kam. Er droht die Vernichtung der Menschheit für den kommenden November an, wenn nicht endlich die Sonntagsruhe eingehalten werde. Es sei die dritte und letzte Warnung. Jeder Priester, der die Warnung erhalte, sei verpflichtet, sie abzuschreiben und weiterzuverbreiten.
Dieser Nachsatz macht den Himmelsbrief zum frühen Kettenbrief.

Die Vorstellung, dass Gott sich in brieflicher Form mit den Menschen in Verbindung setzt, wurzelt im volkstümlichen Glauben an die göttliche Herkunft der Schrift und ist typisch für Kulturen im Frühstadium der Literalisierung. Ein Vorbild findet sich im Alten Testament, im Bericht des Ezechiel von seiner Berufung als Prophet. Gott Jehova erscheint ihm am Himmel und spricht: „Mach deinen Mund auf und iß, was ich dir gebe!“ Ich schaute auf und sah vor mir eine ausgestreckte Hand, die eine Buchrolle hielt. (…) Die Stimme fuhr fort: „Du Mensch, iß diese Buchrolle auf! Fülle deinen Magen damit!“ Da aß ich die Rolle; sie war süß wie Honig.“ (Ezechiel, Kapitel 2 u. 3)

Himmelsbrief 2) „Der in der Luft hängende Himmelsbrief neigt sich dem zu, der Lust hat, ihn abzuschreiben. (…) Wer den Brief hat und nicht offenbart, der sei verflucht von der herrlichen Kirche Gottes.“ (Bächtold-Stäubli, Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens).

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Zurück zum Kettenbrief: Vor Zeiten des Internets und der digitalen Variante „Blogstöckchen“ kursierten viele Kettenbriefe mit der Sackpost. Sie versprachen Geld, Liebe oder Glück. Wer den Brief nicht weitergab und die Kette damit unterbrach, dem wurden schlimme Strafen angedroht. Die Briefe mussten in der Regel siebenmal kopiert und weitergegeben werden. Das erklärt den schlechten Zustand mancher Kettenbriefe. Bedingt durch die unzureichende Kopiertechnik waren manche kaum noch lesbar. Zeitweise war das Versenden von Kettenbriefen durch die Post verboten, bedingt durch die exponentiell ansteigende Zahl von Postsendungen. Wenn die Kette nicht unterbrochen wird, ist schon bei 7 hoch 7 ein Aufkommen von 823.543 erreicht.

Kettenbriefe, die Geld oder Ansichtskarten versprechen, funktionieren nach dem Schneeballsystem. Den Teilnehmern wird eine Liste von Nutznießern präsentiert, wobei der 1. auf der Liste bedient werden muss. Anschließend streicht man ihn und schreibt sich vor der Kopie und Weitergabe an die unterste Stelle. Auf diese Weise rückt man theoretisch nach oben auf. Da Hunderttausende Teilnehmer nötig sind, bis man selbst oben angekommen ist, wird klar, dass solche Schneeballsysteme nur den Nutzern etwas bringen, die bei Beginn der Kette oben auf der Liste stehen. Eine Freundin erinnerte sich, sie habe einmal einen Kettenbrief weitergegeben, mit dem Unterhosen versandt werden mussten. Dann kann man froh sein, wenn der Brief irgendwo stockte, denn wer will schon hundertausend Unterhosen?

Irgendwann in der Antike hat ein zahnloses altes Mütterchen im Kaukasus in einen Sauerteig aus Weizenmehl gerotzt und die Fermentierung in Gang gebracht für einen essbaren Kettenbrief, der bei uns aus unerfindlichen Gründen Hermann heißt. Man bekommt einen Hermannteig von guten Freunden – zusammen mit dem Hermann-Brief, in dem genaue Anweisungen stehen, wie der Teig behandelt werden will. Man muss ihn füttern und pflegen, dann wächst er, bis er geteilt und weitergegeben werden kann.

(Größer: Kettenbriefe anklicken)

Eine Schülerin erzählte mir in den 90 Jahren des letzten Jahrhunderts, ihre Mutter habe 20 Jahre zuvor schon einen Hermann gehabt. Und wenn man bedenke, fuhr sie fort, „dass da so alte Zutaten drin sind…“ Dieser Gedanke erreichte mich zu spät. Tags zuvor hatte ich bereits leichtsinnig ein Stück Hermannkuchen gegessen. Da war mir ganz mulmig. Hatte ich mir ein uraltes Stück Weltkuchen einverleibt oder hatte eine invasorische Hefekultur auch von mir Besitz ergriffen. Inzwischen würden sich Moleküle des Hermannteigs gewiss in der gesamten Menschheit nachweisen lassen, haben sich in den Genstrang kopiert, und wir alle werden von Hermann regiert.

Update 22.06.2017 Vom Autor dieses Textes:

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