Das nackte U und die Tugend


(Kartoffeldruck auf Scanner – Grafik: Trithemius)

Y (griech. „u psilon“, das ist: nacktes u) ist der 25. Buchstabe des lateinischen Alphabets, wurde von den Römern mit dem griechischen Alphabet übernommen, wo Y der 20. Buchstabe ist. Die Römer hängten Ypsilon im lateinischen Alphabet hinten an, weil sie dafür keinen Lautwert hatten. Ypsilon wurde benötigt, um griechische Namen im Lateinischen zu schreiben. Ypsilon ist im Deutschen ein Halbvokal, in Fremdwörtern wie Yacht, Yuppie oder Yoga entspricht es dem Konsonanten „j“, beim Inselnamen Sylt oder beim Vornamen Yvonne hat Ypsilon den Lautwert von „ü“ bzw. „i“. Demnach könnte das Deutsche auf das Ypsilon verzichten.

Als Symbol hat es jedoch Bedeutung. In der Literatur hat das Ypsilon viele Namen: Der „bifurcata littera“, „littera Pythagorae“, „Libre arbitre“, „der Scheidweg des Herkules“ „die Kreuzwegsfigur des Pythagoras“. Der untere Stamm des Ypsilon symbolisiert die lautere und reine Kindheit, die Äste stellen die Gabelung des Lebensweges dar, an dem der Heranwachsende wählt, links den bequemen Weg des Lasters, rechts den steilen, steinigen Weg der Tugend. Die Figur ist ein beliebtes Motiv von der Antike bis ins 18. Jahrhundert und durch zahlreiche Beispiele aus der Literatur belegbar:

Vergil (AENEIS, Sechster Gesang):

„Hier ist der Ort, wo die Straße sich teilt in verschiedene Wege.
Rechts, da zieht sie sich hin zum Palast des mächtigen Pluto,
Führt auch zum Elysium hin; doch jene zur Linken
Straft die Bösen mit Qual und führt zu des Tartarus Schrecken.“

Richard de Bury, Bischof von Durham, verwendet das christlich umgedeutete Bild in seinem berühmten Buch von der Bücherliebe, dem PHILOBIBLON (1344), in der ruhigen Gewissheit, dass die Leser seiner lateinisch verfassten Abhandlung die gelehrte Anspielung verstehen. In der Klage der Bücher gegen wohlbestallte Geistliche heißt es:

„Soll aber die Gefahr der Jugend euch bezwingen, und ihr, wenn ihr zur Kreuzwegsfigur des Pythagoras gelangt, den linken Ast erwählen und rückwärts abirrend den aufgenommenen Weg des Herrn verlassen und ihr zu Diebsgenossen werden….“

– dann kann der gefallene Priester nach seiner Meinung nur noch durch das Zeugnis der Bücher vor dem Galgen gerettet werden.
(zitiert a. d. Übersetzung von Max Frensdorf).

200 Jahre später
, das ganze auf gut Deutsch gesagt – Hans Sachs verdeutlicht Vergil:

(dieser buchstabe) wirt ein ypsilon genandt.
Virgilius der spricht (versteh!):
dieser buchstab Pytagore
ist oben zerspalten von weytten
gleich wie zway hörner auff baid seyten,
an zu schawen, sam zeig er, das
menschlichs leben zwayerley strasz

Hans Sachs; der buchstab Pitagore Y, baiderley strasz, der tugent und der untugent (1534), (zitiert a. d. Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm).

Der Dichter Jean Paul
(1763-1825) kannte „in Spaa einen Croupier“, der in seiner Jugend ein Strauchdieb gewesen war. Dieser Mann verkündete, „der Wind fänd‘ ihn längst am Galgen, wär‘ ihm nicht, da er auf dem Scheidweg des Herkules schon den linken Fuß auf den Höllenweg hingehalten hätte, auf dem Tugend- und Himmelswege der Genius der Tugend in Gestalt des Spiels entgegengeritten.“

(Jean Paul; Untertänigste Vorstellung unser, der sämtlichen Spieler und redenden Damen in Europa, entgegen und wider die Einführung der Kempelischen Spiel- und Sprachmaschinen)

Das Motiv ist im 18. Jahrhundert offenbar noch allgemein geläufig, aber die Vorstellung, die Jean Pauls Croupier von Tugend hat, ist schon ziemlich verwaschen. Richtig ist jedoch, dass Croupiers in der Regel nicht am Hals aufgehängt werden. Ansonsten müsste es frei nach Brecht heißen: Was ist das Ausrauben einer Bank gegen das Halten der Bank? Doch Spiel, sagt der Croupier, ehedem Strauchdieb. Da ist er auf dem richtigen Weg, wenn man Spiel als etwas betrachtet, wobei es nicht um Geld geht.

Es deutet sich hier schon an, warum das Ypsilon-Motiv in Vergessenheit geraten ist. Lebenswege sind nicht so klar wie das Ypsilon suggeriert. Der moderne und erst recht der postmoderne Mensch sieht sich immer wieder neu vor Entscheidungen von Richtig oder Falsch gestellt. Selbst wenn er dem steinigen Weg der Tugend unterwegs ist, kann sich vor ihm ein bequemer aber verderblicher Weg noch auftun. Herr Leisetöne hat kürzlich zeichnerisch erkundet, was geschieht, wenn ein Mensch auf seinem Lebensweg immer den rechten Weg wählt. Sehen Sie selbst:
(Skizze: Leisetöne, nachgestellt und animiert von Trithemius.)

Der Lebensweg hat Kreisform. Welche philosophischen Konsequenzen ergeben sich daraus? Zuviel des Guten wird kreisförmig. Spontan fallen mir religiöse Eiferer oder Moralapostel ein. Sie drehen sich im Kreis. Ich glaube schon lange, dass man sich ab und zu kleine Verfehlungen erlauben muss, damit sich die negative Energie nicht aufstaut und sich in Untaten Bahn bricht. Die Kreisfigur scheint zu bestätigen, dass ein gradliniger Lebensweg nur bei kleinen Fehlentscheidungen möglich ist.


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