Abendbummel Online – Eert den Schepper

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EERT DEN SCHEPPER (Ehrt den Schöpfer)

…steht auf dem Wegkreuz unter der Eiche. Man kann sich der Aufforderung in dieser Landschaft nicht verweigern. Wenn der liebe Gott ein bisschen verkitscht ist, dann ist das hier sein eigen Hausgärtlein. Ich sitze auf der Bank unter der lieblichen Sonne, schaue mal über die sanften Hügel des Mergellandes, mal lese ich in dem Buch, das mir Auskunft geben soll über den freien Willen, bzw. was die Hirnforscher noch von ihm übrig gelassen haben.

Was ist bloß in den letzten Jahren mit dem freien Willen passiert? Er ist irgendwie in Verruf gekommen, hat gar etwas Chimärenhaftes, jedenfalls in den Köpfen der Philosophen, die sich mühen müssen, ihn vor den Schmähungen durch die Hirnforscher zu schützen.

Ein Paar auf Mountainbikes kommt den Berg hinauf und setzt sich zum Verschnaufen zu mir. Sie grüßen und wir wechseln ein paar Worte. Der Mann neben mir hat einen Blick auf den Text in meiner Hand geworfen, und jetzt ist er still. Er schweigt mir ins Buch hinein, so dass ich gar nicht mehr konzentriert lesen kann. Diese Rücksicht setzt mich unter Druck. Jeden Moment wird er mich fragen, wann ich denn endlich dem freien Willen auf die Spur gekommen sei, damit über das schöne Wetter geredet werden kann. Und weil er erwartungsvoll schweigt, schweigt seine Partnerin auch. Nur manchmal weht ein peinlich schüchternes Wispern von ihr zu mir herüber.

Wenn ich den Kopf hebe, um andere Wanderer zu grüßen, die bedauernd an der besetzten Bank vorbei gehen, dann weiß ich anschließend nicht mehr, wo ich beim freien Willen aufgehört habe und lese einen Satz zum dritten Mal. So wird das nichts.

Rings um uns herum macht es beständig und lustvoll plopp. Plötzlich sagt die Frau leise, doch vernehmlich:

„Hier ist die Chance groß, dass man eine Eichel auf den Kopf kriegt.“

Es klingt ein bisschen, als würde sie es sich wünschen. Er sagt nichts, und ich sage auch nichts, denke aber, ohne es zu wollen, dass die Chance, eine Eichel auf den Kopf zu kriegen auch woanders groß sein kann, zum Beispiel in einem Swingerclub.

Wo bleibt da mein freier Wille, bitteschön? Warum muss ich diesen Unsinn denken?

Natürlich weil „Eichel“ ein Homonym ist. Und schaue ich mir an, was die Frau auf den Kopf zu kriegen befürchtet/erhofft, weiß ich, wer bei der Namensgebung wem Pate gestanden hat.
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Endlich, endlich brechen die beiden auf. Wo es nach Eys geht, wollen sie noch von mir wissen, denn wer ein philosophisches Buch über den freien Willen liest, wird ja wohl mindestens über die Gegend Bescheid wissen, was ja in der Hierarchie des Denkens und Wissens Vorrang zu haben hat.

Sie können diesen oder jenen Weg nehmen“, sage ich. „Sie führen beide nach Eys.“
„Und welcher ist näher!“
„Es ist egal, sobald sie die Kuppe erreichen, liegt Eys vor Ihnen im Tal.“

Sie fahren los. Nach welchen Gesichtspunkten wählt er den Weg? Steht es ihm frei, den linken oder den rechten zu nehmen oder ist seine Entscheidung längst determiniert? Haben die neuronalen Prozesse in seinem Gehirn bereits einen Weg ausgekungelt und präsentieren ihm diese Kungelei als freie Willensentscheidung? Dann wäre seine Wahl nicht frei, obwohl er meint, er hätte sich frei entschieden.

Warum habe ich ihm keinen Weg empfohlen? Ich war ungehalten und wollte die beiden loswerden. Was hat mich ungehalten gemacht? Prozesse in meinem Denken, von denen ich nichts Genaues weiß. Ich könnte sie nachträglich erklären, doch wüsste sofort, dass es immer nur die halbe Wahrheit wäre.

Wenn weder seine noch meine Wahl frei war, gäbe es überhaupt keine freie Wahl. Dann wäre alles im Leben vorbestimmt durch die Konstellationen. Nur weil wir die Gesamtheit aller Konstellationen nicht überblicken, können wir uns die Illusion eines freien Willens und einer unausformulierten Welt erhalten.

Später sitze ich auf einer anderen Bank unter den Bäumen einer kleinen Parkanlage, wo auch zwei junge Frauen eifrig in Manuskripten lesen. Dort habe ich Ruhe und bleibe eine Weile, bevor ich selber ins schöne Örtchen Eys hinabrolle.

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Während ich den Apfel esse, den ich unterwegs an einer Plantage aus einer Erntekiste genommen habe, kommt mir etwas in den Sinn, was ich schon lange vermute: Möglicherweise lassen sich mit den Mitteln des Denkens keine zentralen Fragen des Menschseins wirklich klären. Irgendwo langt man stets beim Unentscheidbaren an, das zeigt auch die Diskussion um den freien Willen. Ich glaube sowieso, dass die meisten Gedanken und die meisten Handlungen des Menschen auf falschen oder ungeprüften Annahmen und Voraussetzungen beruhen.

Dass man trotzdem sinnvoll handeln kann, trotzdem richtig und falsch, gut und böse, schön und hässlich und vieles mehr zu unterscheiden vermag, finde ich beruhigend.

Guten Abend

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