Die letzte Freinacht – Lesung, Folge 17

Folge 17
Mal eben gratulieren

Weg, du Wurm! Ich will die Erinnerungen nicht, an die du rührst. Ja, ich habe auf der nächtlichen Brücke gestanden und erwogen, dass es am besten wäre, im Fallen nach der Oberleitung zu greifen. O Gott, diese „sauleckere Suppe“ die sie gekocht hatte, so lecker, „das sie sich hineinsetzen könnte.“ Die Reste vom Abendessen, das ihr Mann gewiss zu schätzen wusste, die hatte sie am nächsten Tag in ein Glas gefüllt und mit in die Stadt gebracht, um sie mir zu geben. Und ich war voller Freude und hab mich artig bedankt. Dann ist sie mit ihrem Mann heimlich verreist, ließ mich im Warten und Hadern und Zweifeln, in Sorge und Not zurück, dass ich den Putz von den Wänden kratzte. Da reichte ihre leckere Suppe nicht, mich zu stärken. War es so? Anders? Schlimmer?

Trotzdem will ich nichts davon wissen. Ich will von den Dingen schreiben, die den Zauber haben, den ich so liebte! Den will ich zurück. Er ist überall. Wenn man gut bei sich ist, kann man ihn greifen.

Welcher Zauber in der Kotze ist? Ja, selbst aus Kotze und Mist kann Zauber erwachsen, aus dem Dreck kann das Schöne und Reine entstehen. Der weiße Champignon wächst auf dem Pferdemist.

Und trotzdem, es war nur ein Vorspiel zum Zauber der Freinacht.

…

Wir sind guter Dinge, die Dämmerung naht. Es geht durch den Hohlweg in den Bruch hinunter. Im Ausläufer des mächtigen Auwaldes finden wir unseren Baum. Die meisten von uns sitzen auf dem Anhänger, wo Äxte und Sägen und eine schwere Kette liegen. Will und ein anderer stehen hinten auf dem Traktor, rechts und links der Anhängerkupplung, und manchmal rufen sie Büb etwas in den Nacken.

Bei uns kreist eine Flasche Korn, damit wir nicht frieren, und die anderen Jungbauern führen das große Wort. Manchmal darf ich auch etwas sagen, doch es ist für einen landlosen Halbwaisen schwierig, das Wort zu bekommen. Kurz und gut gesagt, das steht mir manchmal zu. Komisch, mein Bruder Will hat das Problem nicht. Er steht immerzu im Mittelpunkt, er ist von natürlichem Adel. Man muss nämlich wissen, wie die Dinge gesagt werden, und irgendwie weiß ich das nicht so richtig. Da war niemand, der es mir beigebracht hat.

Es wurde bei uns oft gelacht über den neuen Nachbarn meiner Großmutter. Am 1. Weihnachtstag ist er bei meiner Großmutter an der Haustür gewesen.

„Guten Morgen, Frau Kramer!“ hat er gesagt. „Ich wollte eben gratulieren. Herzlichen Glückwunsch!“
Dabei hat er meiner verwunderten Großmutter die willenlose Hand geschüttelt und auch noch dem Großvater durch den Hausflur zugerufen: „Herzlichen Glückwunsch zu Weihnachten, Herr Kramer!“

Knapp vorbei ist auch daneben. Bei Floskeln duldet man kein daneben. Man muss die richtigen Formeln beherrschen. Will kennt die Formeln des Lebens gut und er setzt sie virtuos ein. Er weiß eben, was sich gehört. Und daher genießt er auch bei den Älteren hohes Ansehen.

Mir dagegen fallen die Wendungen manchmal nicht ein. Höchsten, wenn ich sie nicht brauche. Auf dem Land ist der Anteil der Floskeln in Gesprächen sehr hoch. Wer nicht so recht weiß, wie die Dinge gesagt werden, hat die Wahl: er wird Dorftrottel oder studiert, wobei das eine natürlich nicht unbedingt besser als das andere ist.

Folge 18

Dieser Beitrag wurde unter Teppichhaus Intern abgelegt und mit , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

2 Kommentare zu Die letzte Freinacht – Lesung, Folge 17

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.