Die letzte Freinacht – Lesung, Folge 18

Folge 18
Vom Lesen

Es ist viel Unruhe in der Landschaft, wenn man auf einem Traktorgespann über Feldwege fährt. Sie schaukelt und ruckelt, kippt mal zur Seite, wieder nach hinten, und plötzlich ist sie ganz weg. Da liege ich auf der Ladepritsche und gucke erstaunt in den ergrauenden Himmel.
Das macht der Korn.

Die Bruchstraße ist ein langer Weg mit wechselnden Gesichtern. Sie beginnt an der Landstraße am Ortsrand und stößt genau nach Osten. In einem der Häuser nahe bei der Landstraße bin ich aufgewachsen. Am letzten Gehöft auf der linken Seite endete für mich der heimische Bereich. Es war Rufweite. Dahinter steigt die Straße leicht an, bis sie an der Wegkreuzung oben im Feld wieder abschüssig wird. Von dort konnte ich unser Haus noch sehen. Dann taucht die Straße zweimal in tiefe Gräben, deren Hänge dicht mit Holunder, Hasel und Brombeere bewachsen sind. Hier begann das kleine Abenteuer. Die Mutter eines Jungen hatte eine Trillerpfeife. Die konnten wir manchmal hören, und dann rannte er flugs nach Hause.

In den fernen Hohlweg trauten wir uns, als wir größer waren. Doch selten waren wir an seinem Ende, wo die Straße auf einem Damm ein altes Moor überquert, das im 19. Jahrhundert trocken gelegt wurde. Ein Kanal mit brackigem Wasser erinnert daran. Ein kurzes Stück durchzieht die Straße einen schmalen Ausläufer des alten Auwaldes. Er gehört zu einem verschwundenen Altarm des Rheins. Dann ein Gehöft. Wenige Meter hinter dessen Hauswiese stößt die Bruchstraße an ein Feld und ist einfach weg, als hätte man sie umgepflügt. Als Junge habe ich dort manchmal mit dem Fahrrad gestanden und bedauert, dass unsere Straße nach so vielen zielstrebigen Kilometern gen Osten ein sang- und klangloses Ende im Acker fand, ohne Sinn und Verstand. Mir war, als wäre sie unter der Ackerkrume noch zu finden.

Da wusste ich nicht, dass ich auf einer alten Römerstraße stand. Dort wo ich zu Hause war zweigte sie von der römischen Fernstraße ab, die von den südlichen Provinzen zur Nordsee führte. Die Bruchstraße war die Verbindung zu einem römischen Castel am Rhein gewesen.

Vielleicht rührte daher ihr seltsamer Zauber, den ich immer gespürt habe, und der wuchs, je weiter ich von zu Hause fort war.

Dass es eine Heeresstraße war, erklärt auch ihr seltsames Ende. Nachdem der letzte römische Legionär durchgezogen war, hatten die Leute dort den Weg verlegt, und später untergepflügt. Sie hatten einfach das Tor geschlossen, wie es sich gehört, wenn der letzte Gast gegangen ist.

An den Hängen der Hohlwege steht der Mergel an. Da und dort leuchtet er gelb zwischen den Büschen. Im Mergel kann man prächtig graben und Höhlen ausschachten. Dachs und Fuchs hatten es uns vorgemacht. Doch wir schachteten rechteckige Kammern. Da saßen wir und bewachten den Hohlweg. Pfeil und Bogen hielten wir bereit. Nur die ahnungslosen Legionäre in leichter Marschordnung kamen nicht.

Das Tal zwischen beiden Hohlwegen hat ein Rheinarm ausgeschwemmt, als der Rhein noch nicht geknechtet war. An seinen Ufern hatte ein Siedlung gelegen, die längst versunken ist und deren Namen niemand recht weiß. Nur Scherben pflügen die Bauern dort aus dem Boden.

Und so ist eine Landschaft ein großer Informationsspeicher, ein Medium, das die Zeichen über Jahrtausende bewahrt, kryptische Zeichen über Zeichen. Wer den Schlüssel hat, kann sie lesen. Und wer Zauber spürt, kann sie ahnen.

Wo bin ich? Ah, ich liege hinterrücks auf der Pritsche. Und das Gespann rappelt durch den Hohlweg.

Folge 19

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