Die letzte Freinacht – Lesung, Folge 16

Folge 16

Diz ist war und niht gelogen!

Bei den ripuarischen Franken gab es einen seltsamen Rechtsbrauch. Wenn sie eine Grenze festgelegen wollten, nahmen sie einen Knaben mit. Und war der Grenzstein gut in der Erde, verabreichten sie dem Jungen ein paar schallende Backpfeifen oder zogen kräftig an seinem Ohr. So würde er sich zeitlebens an die Stelle erinnern und den Grenzverlauf bezeugen können. Das Wort „Zeuge“ stammt daher, der Zeuge wurde am Ohr gezogen.

Ganz sicher ist es eine wirksame Erinnerungstechnik, rasch und ohne großen Aufwand auszuführen. Doch wer wollte heute solch ein Opfer auf sich nehmen? Was wäre es für ein Leben, wollten wir uns gegenseitig am Ohr ziehen, um die Erinnerungen zu bewahren?

Ich kann mich allzeit nur schlecht erinnern. Besonders schlecht ist mein visuelles Gedächtnis. Wenn ich etwas aus der Erinnerung zeichne und es dann mit der unmittelbaren Anschauung vergleiche, erscheint mir mein Erinnerungsbild verformt. Nirgendwo kann man die subjektive Organisation des Gehirns besser erkennen als in Bildern, die der Mensch sich von der Welt gemacht hat. Manche Verformungen gehen auf Erinnerungslücken zurück. Diese Leerstellen werden aus der subjektiven Erfahrung gefüllt und eventuell nach Gesetzen der Logik ergänzt. „So muss es gewesen sein“, denkt sich der Mensch.

Ob es beim Erinnern von Ereignissen auch so ist? Die Verzerrungen, Verformungen und Leerstellenfüllungen sind nicht so leicht zu erkennen. Anders als bei der Zeichnung nach der Natur fehlt bei den Erinnerungen der Ereignisse eine Vergleichsmöglichkeit. Es sei denn, da käme ein Zeuge der Ereignisse daher, der bei jeder neuen Entwicklung kräftig geohrfeigt wurde. Dem dürfte man natürlich glauben.

Das Brot des Bäckers

Wir versammelten uns bei Karl an der Theke und warteten auf die Jungbauern. Ohne sie geht es nicht. Ein Baum muss gestohlen werden, und dazu braucht man schweres Gerät.

Seit einigen Wochen hat der Bäcker einen neuen Gesellen. Dingenskirchen heißt er oder so. Von hier stammt er nicht, und ich will auch nicht wissen, aus welchem Loch er gekrochen ist. Jetzt steht er an der Theke und führt das große Wort. Das macht er fast jeden Abend, säuft bis um zwei Uhr und dann ab, im besoffenen Kopp von der Kneipe in die Backstube.

Er macht Witze über seinen Brotherrn und seine Frau, und weil die Kerle um ihn herum lachen, wird er übermütig.

„Vorgestern war ich so besoffen, da habe ich doch glatt in die Rührmaschine gekotzt. Voll in den Schwarzbrotteig!“

„Wie, du hast in unser Schwarzbrot gekotzt?!“, ruft Karl von der Zapfsäule her, „dat essen wir doch alle!“

„Was sagst du, Karl?“, fragt Wingens.

„Der hat in unser Schwarzbrot gekotzt!“

„Wer?“

„Der da, die Hummelfott!“

„Wie, so richtig reingekotzt und dann gebacken?“, fragt Heinz, der Maurer, ungläubig. „Wer sagt dat?“

„Hat er selbst gesagt.“

Da wird so mancher still und blass bei Karl an der Theke.

„Mir is dat ejal, isch ess nur Weißbrot“, sagt Wingens. „Schwarzbrot vertrage ich nicht. Mein Arzt sagt, essen Sie bloss …“

„Jetzt sei still, du Kranköllich!“, sagt Heinz. Ihm dämmerts nämlich. Er stellt sich bestimmt den versoffenen Bäcker vor, wie er grün im Gesicht über dem Rand der Rührmaschine hängt, und Schwupp für Schwupp seinen Mageninhalt hinzugibt. Und dann sieht er sich selbst am Bau, wie er Pause macht, sein Butterbrot auspackt. Was hat er für einen Hunger! Und was hat die Mamm ihm eingepackt? Schwarzbrot mit dick Knoblauchwurst drauf!

„Wann wor dat, du Verbrecher!“, ruft Heinz. „Disch klatsch isch an die Wand!“

Biergläser kippen, und Dingenskirchen fällt aufschreien mit dem Hocker um, kommt halb zwischen Fußstange und Theke zu liegen. Und über ihm steht der Maurer und will ihn erwürgen. Es gibt Handgemenge, und Karl geht dazwischen, drängt den Maurer ab und sieht zu, dass der Bäcker sich aufrappeln kann. Dann hält er ihm die Tür auf und erteilt Lokalverbot. Und es fehlt nicht viel an einem kräftigen Arschtritt, als der Bäcker Verwünschungen ausstößt, bevor er sich trollt.

„Bring noch ne Runde Apfelkorn, Karl!“, ruft Will. „Alkohol desinfiziert!“

Ein anderer Karl kommt hinter die Theke zurück, zapft ernst ein Pils zu Ende und füllt dann die Lage Apfelkorn. Jetzt ist er der Wirt und nicht der Saufkumpan, ein Mann mit Prinzipien, unser moralisches Gewissen, einer der sein Hausrecht wahrnimmt und noch lange nicht jeden Suffkopp bedient, also mindestens einen nicht, von den Millionen, die auf unserem Erdball herumlaufen.

Keiner kann ernstlich gegen einen Bäcker klagen, wenn ihm bei der ehrlichen Arbeit des Teigknetens ein paar Schweißtropfen von der Stirn perlen. Aber das sollte sich jeder verkommene Bäcker merken: Sein Notdurft hat er heimlich zu verrichten. Auch wenn sich hartnäckig die Fama hält, dass viele Delikatessen mit Körpersäften veredelt werden. Das Keltern der Trauben mit nackten Füßen, es ist so romantisch, wer denkt da an Fußschweiß? Und der Ethnologe Burke berichtet von einem Fall des 19. Jahrhunderts, dass eine für ihr duftendes Brot berühmte Bäckerei in Paris geschlossen werden musste, weil man entdeckte, dass sie das Wasser zum Backen aus dem Abwasserkanal nahmen. Es gab sogar eine direkte Zuleitung.

„Wenn der sich nur nicht an unseren Brötchen rächt“, sagt einer und wendet sich an den Mann, dem der Arzt das Trinken befohlen hat. „Was sagst du eigentlich dazu, Effertz, ist dir das alles egal?“

„Der isst nie die Stullen von seiner Alten“, mischt sich Will ein, „die gibt der Abends seinen Kindern und sagt, es wären Hasenbutterbrote.“

Das hätte jetzt neuen Streit geben können. Zum Glück geht die Tür auf, und Mistgeruch weht herein. Büb, der Jungbauer steht in der Tür. Er hat sein Gespann draußen, es kann los gehen.

Folge 17

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