Die letzte Freinacht – Lesung, Folge 11

Folge 11
Abgründe

Die Frauen richten schwatzend ihre verrutschten Kopftücher. Dann werden die Handhacken zusammengesucht, eine für jede, und die Vorräte abgeladen. Lang zieht das Feld sich hin, auf dem junge Rübenpflanzen in Reihe stehen. Die Erde dazwischen ist platt, vom Regen geweicht, von der Sonne gebacken.

Der Junge ist sich selbst überlassen. Er springt vom Anhänger, erkundet den Umkreis, und dann schaut er den Frauen zu, wie sie sich Knieschoner aus Resten von alten Kartoffelsäcken falten und mit Riemen oder Einmachgummis um die Knie binden. Sie werden Rüben einzeln. Dazu müssen sie auf den Knien durch die Pflanzreihen rutschen und mit der Hacke in die kleinen Büschel fahren. Von den Pflänzchen, die sich aus dem Ackerboden recken darf nur das größte stehen bleiben. Die anderen liegen bald laff und welk daneben.
Das ist der Rübendarwinismus.

Jede der Frauen sucht sich eine Reihe aus, geht auf die Knie und rutscht voran. Hacke rein in ein Büschel, einmal rundum gehackt und weiter. Anfangs sind sie noch auf gleicher Höhe und rufen sich Scherzworte zu. Doch alles, ohne den Kopf zu heben. Jede hat ihr Tempo. Manche legt am Morgen weit vor und bleibt am Nachmittag zurück. Da richtet sich eine auf, legt den Kopf in den Nacken, streckt den wehen Rücken, fährt sich mit der Hand durchs Kreuz, schnäuzt sich die Nase, und schon ist die in der Nachbarreihe weitergerutscht und hinter dem nächsten Knipp versunken.

Der Kleine weiß, dass sie nicht wirklich weg sind, wie er früher gedacht hat, als er einmal Reiter sah, die ihre Pferde über eine Hürde jagten und dann in einem Abgrund verschwanden. Er hat sich gewundert, dass immer wieder neue Reiter auf Pferden kamen, und dass sie so bereitwillig in den Abgrund sprangen. Später hat er sich gedacht, dass sie doch nicht mit ihren Pferden in den Tod gesprungen sind, dass es immer dieselben Reiter waren, die vor ihm in den Abgrund tauchten.

So von den Knien aus ist die Welt seltsam. Unfasslich hoch wölbt sich der Himmel. Die Pflanzreihen am Boden streben weit hinten zusammen und geben dem Feld unendliche Tiefe. Jede Bodenwelle wird zur Erhebung, hinter der ein Mensch verschwinden kann, als hätte sich die Erde unter ihm aufgetan.

Bald ist der Junge allein. Verlassen steht der Anhänger, denn der Bauer ist mit dem Traktor davongefahren.

Letzte Nacht war da wieder dieser Traum. Die unendliche Schwärze, und Zahlen darin, die immer größer und länger werden. Und sind sie auch längst unfasslich groß, sie wachsen gandenlos weiter. Die Zahlen trudeln fort, weg von ihm. Und wie sie unaufhörlich wachsen und davoneilen, wächst auch die schwarze Leere. Kleiner und kleiner wird sein Ich. Unendlich ist seine Not, das schreckliche Gefühl der Verlassenheit. Er kann niemanden rufen.

Folge 12

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