Die letzte Freinacht – Folge 2

Folge 2
Der Zettel im Tapetenbuch

Vor einiger Zeit beherbergte ich einen Gast, einen mir unbekannten Mann Mitte 40, der Freund eines Freundes, den ich auf dessen Bitten eine Nacht aufgenommen hatte. Der Mann sei nur noch eine Nacht in Deutschland, sagte mein Freund, er habe seine Zelte abgebrochen und folge bedingungslos einer rätselhaften Frau in ein fernes Land.

Ich überließ dem Mann unser Gästezimmer, eine Stube unterm Dach, die ohne Möbel war, weil wir sie gerade hatten tapezieren lassen. So stellte ich ein Klappbett hinein und einen Stuhl dazu, und bat den Gast um Entschuldigung für die dürftige Ausstattung. Er war davon jedoch ganz unberührt, bedankte sich, zog sich früh zurück in sein karges Gelass, wobei er die Bitte äußerte, man möge ihn gegen acht Uhr wecken, falls er verschlafen würde.

Gegen sechs Uhr am Morgen erwachte ich. Ein leises Klopfen an der Tür und eine Stimme. Er bedanke sich, müsse nun doch eher aufbrechen, wir sollten uns nicht weiter stören lassen, er gehe jetzt. Und kam noch einmal zurück und sagte leise auf dem Flur draußen, er habe etwas im Gästezimmer hinterlassen, wir könnten damit verfahren, wie wir wollten.
Dann fiel die Haustür ins Schloss. Wir sahen ihn nie wieder, noch hörte meine Freund je wieder von ihm.

Am Morgen betrat ich die Dachstube. Da war das zerwühlte Bett, da stand der Stuhl, nichts weiter. Dann fiel mir ein seltsam grauer Schleier auf, den ich zunächst für eine Erscheinung des schwachen Morgenlichts gehalten hatte. Als ich herantrat, da war die Tapete vollends mit Bleistift bekritzelt. Und zwar überall im Raum, von der Fußleiste bis zum Deckenfries. Da war kaum ein Flecken frei. Der Schreiber hatte offenbar über dem Kopfende des Bettes begonnen und hatte seinen verbalen Erguss von dort über den ganzen Raum verbreitet. Nach meiner Rechnung waren etwa 29 Quadratmeter Wandfläche beschrieben, zum Teil in einer seltsamen Kurzschrift.

Ich hatte Mühe, die langen Zeilen zu entziffern. Er hatte mit der Raumeinteilung offenbar planlos begonnen, erst später schritt der Text kontinuierlich über die Wände fort. Ich stieg auf den Stuhl und wieder hinab, musste auf die Knie und dann wieder mich strecken.

Da die Tapete ohnehin ruiniert war und ich den Text erhalten und studieren wollte, ließ ich erneut den Tapezierer kommen und die Tapetenbahnen ablösen. Leider ging beim Ablösen ein wenig Text verloren.

Zum Glück hatte sich unser Gast an den Nahstellen der Bahnen orientiert, „am Stoߓ, wie die Tapezierer sagen. Die Bahnen zerschnitt ich in Bogen von etwa DIN-A3. Der Buchbinder empfahl mir, den Packen in drei Bände zu binden, was ich ihn auch tun ließ.

Soweit der Inhalt des Zettels.

Folge 3

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