Folge 3
Die halbe Decke
Soweit der Inhalt des Zettels.
Ich will über widersprüchliche Aussagen nicht leichthin urteilen. Als Experte für Tapeten und andere Formen der Wandgestaltung kenne ich Formen der Wandbeschriftung. Sie sind in der einschlägigen Literatur hinlänglich beschrieben. Das bekannteste Beispiel ist Das Kotzenmäre, eine bürgerlich volkstümliche Moralerzählung des ausgehenden Mittelalters, die auch unter dem Titel Die halbe Decke bekannt ist:
Ein reicher Kölner Bürger ließ sie um 1410 an die Wände eines Zimmers malen. Auf Spruchbändern äußern Personen ihre Meinung.
Das Kotzenmäre
Ein alter Mann hat seinen gesamten Besitz dem Sohn übertragen und fristet nun, mangelhaft versorgt, ein übles Dasein in einem Bretterverschlag auf dem Hof. Nur der Enkel kümmert sich um ihn. An einem klirrendfrostigen Winterabend bittet der Alte ihn um eine Decke.
Der Vater sieht den Knaben, als er sich mit der Decke davonstehlen will.
Wohin willst du mit der Decke?
Der Großvater braucht sie.
Dann warte!, befiehlt sein Vater, holt eine Schere und zerschneidet die Decke in zwei Hälften.
Das Teil muss für den Alten reichen!
Da erbittet sich der Kleine die andere Hälfte. Wozu er sie haben wolle, fragt der Vater.
Ich verwahre sie, bis du einmal alt bist.
Da erkennt der Vater sein Vergehen gegen das vierte Gebot. Er holt den Alten ins Haus und hält ihn fortan in Ehren.
Ich gestatte mir, Stammler zu zitieren, der über den Stoff des Kotzenmäre sagt, es sei im 14. Jahrhundert nicht weniger als sechsmal bedichtet worden, auch ein Beweis für die Beliebtheit des so recht für Bürgerkreise geeigneten Themas.
Ob es sich beim bald folgenden Manuskript um eine erbauliche Moralerzählung handelt, mag der Leser entscheiden.