Mittagsplausch mit Frau Nettesheim – Champagner saufen gegen Analphabetismus

Trithemius
Wissen Sie, was mich wirklich erstaunt, Frau Nettesheim? Die Zahl der Analphabeten in Deutschland bleibt seit Jahrzehnten konstant.

Frau Nettesheim
Meinen Sie Primär- oder Sekundäranalphabeten?

Trithemius
Egal, ob sie eine Schule besucht haben oder nicht, es gibt vier Millionen funktionale Analphabeten. Das ist für eine Bildungsnation ein Armutszeugnis.

Frau Nettesheim

Mit Armut hat es gewiss auch etwas zu tun.

Trithemius
Hab ich früher auch gedacht. Doch es scheint alles ganz anders. Beim Kartoffelschälen habe ich eine Süddeutsche Zeitung vom 28. April als Unterlage benutzt. Und da las ich etwas Wunderbares. Nina Ruge, der Zirkusdirektor André Sarasani, Celia Gräfin von Bismarck, die frühere Kulturstaatsministerin Christina Weiss und einige Schauspieler haben gegen den Analphabetismus angelesen. Das wird die vier Millionen Analphabeten ganz schön auf Trab bringen.

Frau Nettesheim
Das meinen sie jetzt ironisch.

Trithemius
Nein, ganz und gar nicht. Die Aktion war genial. Sie kennen doch die alte pädagogische Weisheit, dass man die Menschen dort abholen muss, wo sie stehen, wenn man ihnen etwas beibringen will. Und wo, denken Sie, findet man funktionale Analphabeten?
In Fünf-Sterne-Hotels.

Frau Nettesheim
Ich glaube, die Pfingsttage sind Ihnen nicht bekommen. Das ist doch Quatsch!

Trithemius
Ja, aber warum sonst haben die prominenten Vorleser sich das Berliner Fünf-Sterne-Hotel Alfa für ihre Vorleseaktion ausgesucht? Sie haben in Suiten gesessen und vorgelesen. Dann haben sich gewiss die vielen analphabetischen Gäste des Hotels dort eingefunden und gelauscht. Anschließend konnten sie lesen. Und zur Feier des Tages gab es Champagner.

Frau Nettesheim

Hab mir gleich gedacht, dass Sie mich veralbern wollen. Da wüsste ich eine bessere Aktion. Der Hl. Columba hat doch Lesen und Schreiben gelernt, indem er einen Alphabetkuchen aß. Vielleicht sollte man an alle Analphabeten Russisch Brot verteilen.

Trithemius
Das ginge natürlich auch. Doch dann wären ja Aktionen wie im Hotel Alfa überflüssig.

Frau Nettesheim

Langsam kriege ich einen Hals, Trithemius. Erzählen Sie mir solche Sachen lieber nicht. Gewiss hat sich der Hotelier die Sache ausgedacht, weil er auf sein neues Hotel aufmerksam machen wollte. Und Deutschlands Kulturschranzen sind für gutbezahlten Schwachsinn immer zu haben.

Da haben Sie auch den Grund für die konstant hohe Zahl der Analphabeten. In Deutschland wird nichts angepackt, sondern überwiegend Medienzauber veranstaltet.

Trithemius
Ach, Sie nehmen mir alle Illusionen, Frau Nettesheim.

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14 Kommentare zu Mittagsplausch mit Frau Nettesheim – Champagner saufen gegen Analphabetismus

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