Abendbummel Online – Schade um den Gong

An manchen Tagen, wenn du dich mit einer gleichgültigen Haltung hast ausstaffieren müssen, um unauffällig mitschwimmen zu können im Strom der Menschen auf den Straßen der Stadt, an solchen Tagen braucht es nicht viel, deine Seele aufzuschließen, so dass die Gefühle, die du eigentlich fliehst, dich plötzlich machtvoll durchströmen und dir die Fassade zu rauben drohen. Natürlich ist alles nur Ergebnis des Fließens der Säfte, von denen du nicht weißt, welche Teile des Gehirns sie befehligen.

Ich traf die Frau meines Freundes und sie fragte, wie es mir geht.
„Gut“, sagte ich.
„Na, lügst du auch nicht?“

Sie ist eine dieser zauberischen Frauen, die dir gleich auf den Seelengrund gucken, egal ob du sicherheitshalber eine Plane darüber gelegt hast. Da musste ich noch ein paar Lügen hinterher schieben, um sie vom Thema abzubringen, denn wer will schon stehenden Fußes vor dem Haupteingang der Post sein Herz entleeren. Überhaupt weiß ich nicht, ob es zu den vernünftigen Tätigkeiten gehört, sein Herz auszuschütten, denn anschließend muss man doch alles wieder aufklauben und nach Hause tragen.

Das war gestern und heute ging es mir nicht anders. Ich fand die Tür der Aula Carolina offen, eine ehemalige Kirche in der Pontstraße, nahe dem Markt, die für diverse Veranstaltungen genutzt wird. Man lud zu einer musikalischen Klangreise im verdunkelten Kirchenschiff. Zwischen den mächtigen Säulen war gleich einem Altar ein Podium aufgebaut. Kaum hatte ich mich zu den wenigen Mitreisenden gesetzt, wurden Kerzen entzündet und ein Ton schwoll an, der sich eine Weile hielt.

Auf dem Podium ein Mann und eine Frau.

Er hatte eine Sorte Kommandostand, war umringt von diversen elektronischen Geräten. Zuerst verneigte er sich vor dem Götzen Computer, dessen flimmernder Bildschirm ihn zu sich rief. Dann wandte er sich der Frau zu und bedeutete ihr, dass der Computer die Erlaubnis zur Klangreise erteilt hatte. Sie war keine Schönheit und hatte ihre Kleidung wohl im Finstern ausgesucht. Als sie begann, musste ich an Ambrose Bierce denken, der meinte, es könne nicht viel dabei herauskommen, wenn man Rosshaar über Katzengedärm zieht.

Ja, das Klagelied der Natur, dachte ich, als sie anfing, ihr Instrument zu zersägen.
Doch sie spielte mit Hingabe, und als der Mann den gehaltenen Ton variierte, flossen die Töne hübsch ineinander. Mal verschmolzen sie, mal hob sich das Klagen der Geige über die elektronischen Klänge hinaus und segelte über den Klangteppich hinweg unter das Deckengewölbe.

Dann simulierte der Synthesizer ein Klavier. Das Klavier fragte, und die Geige gab Antwort. Er kraftvoll und fordernd, sie verhalten und verspielt. Ein schönes Gespräch.

Orgelklänge schwollen an, brausten durch das Kirchenschiff, und die Geige schien darin zu ertrinken. Mit einem Mal raffte sie sich auf, fand Lücken, sich Geltung zu verschaffen, wurde frech sogar, – um dann wieder mit der Orgel zu verschmelzen. Da waren auch gezielte Dissonanzen in der Musik, gleich einem verhalten geführten Streit.

Jetzt die Versöhnung, erst freundliche, dann süße Klänge, die Zug um Zug wilder wurden.
Es war wie das Spiel der Liebe und der Lust; und gerade daran wollte ich nicht denken.

Eigentlich hatte ich längst genug gehört, denn sie spielten ihr Spiel in vielen Variationen. Doch ich blieb, weil ich wissen wollte, ob und wie der große Gong zum Einsatz kommen würde, der so verheißungsvoll goldglänzend an einem Gestänge hing. Dann war ich so ungeschickt, die Augen zu schließen, wurde mitgerissen und von Erinnerungen gewalkt.

Das hätten sie mir nicht antun müssen, und darum bin ich gegangen.

Schade um den Gong.

Der Rückweg beschied mir eine Reihe surrealer Momente. Das Treiben auf der Straße schien mir fremd.

Ein zwergenhafter Mann kam auf mich zu, der mir allenfalls bis an die Hüfte reichte. Er führte einen schwarzen Dackel an der Leine, oder der Dackel führte ihn. Ich habe noch einmal hingeguckt, ob der Dackel keinen Sattel trug. Es hätte gepasst. Der kleine Mann schaute grimmig, was ich ihm nicht verdenken konnte. Denn es ist schon ein hartes Los, so aus der Norm zu fallen.

Dann der blonde Mann im Engelladen, der gerade Engelnippes in der Auslage arrangierte. Unsere Blicke trafen sich. Er schaute weg, denn er schämte sich, dass er sein Geld mit Engelaberglauben verdient.

Zwei Migrantensöhne joggten auf mich zu, im knallbunten Joggeroutfit. Der kleinere hatte Säbel- der größere X-Beine. Und der eine sagte zum anderen: „Wir beten doch alle Gott an!“

Drei heruntergekommene Menschen, zwei Männer, eine Frau, standen redend auf dem Bürgersteig und versperrten mir den Weg. Die Frau war vom Leben ziemlich verbeult, doch über ihrem Arm trug sie ein weißes Brautkleid. Es war in eine Plastikfolie eingepackt und schien einer anderen Wirklichkeit anzugehören. Sie sprachen gerade über „zehn Euro“, und das war ihnen ziemlich viel Geld.

Es ist nur eine kleine Auswahl gewesen von dem, was ich heute sah, weil mir unglücklicher Weise das Herz weich gemacht wurde.

Doch ich frage mich, was ist das eigentlich für ein Gott, den „wir alle“ anbeten? Und warum habe ich einen Götzen im Herzen, der mich wirr macht, wie er gerade lustig ist?

Guten Abend

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