Nachtschwärmer Online – Fass mal Papyrus an!

Fünf Etappen

Schlusskorrektur gegen 23 Uhr

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Du bist eine mutige Frau, meine Liebe. Kennst mich kaum, es ist dunkel, kalt sowieso, der Wind jault in den Drähten, und trotzdem steigst du mit mir auf diese Draisine.
Du musst es wissen. Bist du bereit?
Gut, wir rollen los …

Eisen auf Eisen rollt sich ab
tock tock tock

… dabei weißt du nicht einmal, ob ich mich über den Zustand der Gleisstrecke informiert habe.

Nein. Ich war ewig nicht hier.

tock tock

Guck mal auf den Gleisstrang. Die Schwellen sind morsch. Die Schrauben könnten locker sein. Die Strecke ist doch stillgelegt. Kein Streckengänger kontrolliert sie mehr. Und wissen wir, welche Zustände uns auf den zahlreichen Talbrücken erwarten? Das Tal der Rur ist tief, und wir müssen ein paarmal drüber hinweg.

Wir machen uns also auf eine Reise ins Ungewisse. Das kannst du wörtlich nehmen.

Tock tock

„Streckengänger“ ist ein schönes Wort, das bald verschwunden sein wird. Weißt du noch, was ein Streckengänger tat?
Ja, er lief das Gleis entlang und klopfte ab und zu mit einem Hammer gegen die Schienen. Am Ton hörte er, ob die Schrauben fest waren. Ein hohes Klingen war gut. Tönte die Schiene tief und matschig, musste der armlange Schraubenschlüssel her.

„Bahnwärter“ gibt es auch nicht mehr. Ich weiß nicht, woran es liegt, doch alte Bahnwärterhäuschen wie das von Imgenbroich …

Ja, du hast Recht, es sieht düster und unheimlich aus, so an Tür und Fenster mit Brettern vernagelt, …

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Doch es war einmal Leben darin. Man kann es sich kaum noch vorstellen.

Die alte Infrastruktur der Bahn war ganz anders als heute. Allein die vielen Menschen, die am Gleis ihr Brot verdienten.

Wir müssen übrigens hinter Imgenbroich noch einmal die Bundesstraße queren. Es ist natürlich wieder ein unbeschrankter Bahnübergang.
Vielleicht gab es früher eine Schranke mit Schrankenwärter.

So ein Schrankenwärter war ein wichtiger Mann, wenn er aus dem Schrankenwärterhaus trat und sich an die große Kurbel der Schranke stellte. Man kannte ihn im Ort. Das war doch Schmitze Pitter. Wenn Pitter aber die Dienstmütze auf dem Kopf hatte, war er Bahnbeamter mit Weisungsbefugnis. Er ließ die letzten Autos durch, und anschließend die Schranken sinken. Sein kurbelnder Arm brachte die Welt zum Stehen, damit die Eisenbahn ungestört fahren konnte.

Schon ratterte sie vorbei. Hei, was für eine wilde Musik aus Eisen!

Hoch mit den Schranken! Jetzt musste der Schrankenwärter sich beeilen, denn rechts und links der Schranke staute sich der Verkehr.
Wenn alles rollte, nahm er seine Dienstmütze wieder vom Kopf und ging zurück ins Schrankenwärterhaus zu Thermoskanne und Henkelmann.

Im fernen Stellwerk der Bahnwärter am Telefon. Nickt, schaut auf die Wanduhr und vergleicht die Zugmeldung mit dem Plan. Er legt auf und klingelt den nächsten Schrankenwärter an.
„Los, Jupp, loss jonn, dä Elf-Uhr-Zoch kütt!“

Wenn Jupp Vollzug gemeldet hat, legt der Bahnwärter den großen Hebel um und stellt das Signal auf freie Fahrt.

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So ungefähr haben sie es gemacht, oder? Ich bin ja auch kein Eisenbahnexperte. Und das alles ist nur noch Technik- und Sozialgeschichte. Die alte Mechanik ist ersetzt und viele Posten bei der Bahn sind verschwunden. Doch weißt du, was ich denke? Auch vor dem Einsatz der Computer und der technischen Umrüstung war die Eisenbahn ein ausgeklügeltes Kommunikationsnetz. So eine Sorte Internet aus dem 19. Jahrhundert, mit Material und Menschen betrieben. Die Informationen wurden mündlich transportiert, von den Reisenden der Bahn in alle Welt getragen.

Was rede ich heute soviel. Du guckst dir die Gegend an, und ich bin auf Zeitreise. Aber wir können ja beides, meine Liebe, wir machen ohnehin eine Reise zwischen Zeit und Raum. Und sie besteht überhaupt nicht mehr aus Material. Ich hab’ auch keine Dienstmütze auf dem Kopf.

Die würde dir ohnehin besser stehen. Ich meine, falls ich jetzt Uniformfetischist wäre.

Guck, wir haben Glück, der Übergang am Ortsausgang von Imgenbroich ist gut einsehbar. Warum ich nichts über Imgenbroich gesagt habe? Das ist verbotenes Land für mich. Richtung Osten im Wald warten Erinnerungen, die ich heute nicht haben will.

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Hier links beginnt das Tal, in dem der schöne Ort Monschau liegt. Wir fahren weit oberhalb der Schieferdächer vorbei. Das ist übrigens Ley. Oder umgekehrt: Ley bedeutet Schiefer. Die Loreley am Rhein, das ist ein Schieferfelsen.

Da ist der Bahnübergang. Ruf mal: „Bahn frei!“ oder „Platz, der Landvogt!“

Tock tock tock tock tock tocktock

Mann, das hat uns fast den Draht aus den Dienstmützen gerüttelt, oder? Aber jetzt kannst du dich wieder entspannen, es hat ein Ende mit den Straßenquerungen. Jetzt folgen nur noch Brücken, so viel ich weiß. Guck mal, das Tal von Monschau fällt ziemlich steil ab.
Und wir rollen immer schön am oberen Rand entlang.

Wenn du magst, steigen wir am Bahnhof ab oder aus, wie du willst, und nehmen die steile Treppe hinunter in den Ort. Es lohnt sich.

Du weißt ja, ich bin nicht vom städtischen Verkehrsverein und mache keine Nachtwächterführungen mit Laterne. Was ich dir also über Monschau erzählen kann, ist rein subjektiv. Sollen wir trotzdem?

Fein, dann freue ich mich, dass du dich meiner einseitigen Wahrnehmung anvertrauen willst.

Du guckst? Ja, ist denn deine Wahrnehmung zweiseitig?
Ach ja, du bist eine Frau, ihr denkt immer alles doppelt. Emotional – rational – immer alles schön hin und her. Wie fühlt sich das eigentlich an?

Wir halten zuerst einmal. Sei vorsichtig, die Bahnsteigkante liegt ungünstig für unsere Draisine.

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Das Rurtal ist hier sehr tief und eng. Monschau sieht von oben aus, als hätte man es reingequetscht, findest du nicht? Wenn wir weiter unten sind, lichtet sich das Meer der Dächer. Dann sieht man, dass dazwischen auch Gassen sind. Doch einige sind so eng, dass gerade eben ein Auto durchpasst. Also, man muss die Luft anhalten, damit es geht. Die Monschauer Bürger wollen ja auch Auto fahren. Doch für Touristen gibt es an den beiden Ortsausgängen je einen großen Parkplatz.

Du kannst ruhig meinen Arm nehmen, die Stufen sind ziemlich glatt.

Am Fuß der Treppe steht auf der Ecke ein Andenkenladen. Dort verkauften sie einmal Papyrus-Streifen mit ägyptischen Schriftzeichen. Was das sollte, weiß ich auch nicht, denn die meisten Touristen kaufen in Monschau Senf. Es gibt eine berühmte Senfmühle hier. Ob sie auch Pharaonensenf anbietet, weiß ich nicht.

Jedenfalls habe ich gedacht, wie schön, dass ich einmal Papyrus anfassen kann. Und von mir aus auch in Monschau. Es ist wunderbar glatt. Und man bekommt glatt Lust, darauf zu schreiben.

Leider ist es schon spät, und der Laden hat zu, wie du siehst.
Doch vielleicht weißt du längst, wie Papyrus sich anfühlt.

Du weißt noch besser, wie schön sich dein Bett anfühlt?

Dann sagen wir uns für heute tschüs.
Es war schön mit dir, und nebenbei, die Dienstmütze steht dir wirklich gut.

Nimm sie einmal ab. Ich küsse so ungern Uniformteile.

Ein trockener Kuss auf dein Haar.

Gute Nacht, meine Liebe

Lobe am Abend den Tag
(Spruchweisheit aus der Edda)

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