Nachtschwärmer Online – winden, wand, gewunden

Fünf Etappen

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Guck dir bloß einmal den Gleiskörper an, meine Liebe. Hier holt sich die Natur ihr Recht zurück. Da wachsen schon kleine Birken zwischen den Schwellen. Bald braucht man eine Machete. Ich muss aufpassen, dass dich unterwegs kein Gehölz streift.

Kann es trotzdem losgehen? Du bist ganz schön mutig. Rück aber etwas näher heran, damit ich die Sache nicht umsonst dramatisiert habe.

Eisen auf Eisen rollt sich ab.

tock tock

Übrigens habe ich vor einigen Tagen ein Angebot im Internet gefunden. Man kann unsere Strecke im Sommer von Kalterherberg nach Sourbrodt mit Fahrraddraisinen befahren. „Railbikes“ nennen sie die Dinger. Klingt schick, oder? Bis du schon einmal an der belgischen Küste gewesen? Auf den Promenaden fahren doch die Touristen mit solchen riesigen Tretkarren herum, auf denen vier oder mehr Personen sitzen können.
Kennst du?

So ähnlich sehen die „Railbikes“ aus. Man braucht damit bis ins belgische Sourbrodt etwa eine Stunde. Doch das Wild flieht, wenn ein Railbike daherkommt. Rehe stürzen sich verzweifelt in den Oberlauf der Rur, weil die Dinger so laut sind.

Das Wild ist im oberen Rurtal lange nicht gestört worden und deshalb sehr scheu. Früher war es Kummer gewöhnt. Denn über die Strecke rollten ständig Güterzüge, die Panzer und anderes Kriegsgerät der belgischen Armee geladen hatten. Das hat zum Glück aufgehört, weil man das große Übungs- und Kasernengelände Camp Elsenborn geschlossen hat, das hinter Kalterherberg im Venn liegt.

Du wirkst heute auch ein bisschen scheu. Hattest du einen anstrengenden Tag?

Und ich? Ich bin schon den ganzen Tag wie vor die Pumpe geflitzt.

Eisen auf Eisen rollt sich ab
Tock tock tock

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Kalterherberg musst du kennen. Kachelmann betreibt da eine Wetterstation. Und wenn er sein Wetter-Entertainment im Fernsehen abzieht, erzählt er auch manchmal etwas von Kalterherberg.

Hier rollt es übrigens gut. Wir nähern uns rasch dem Ort Konzen. Dort kannst du schon die ersten hohen Buchenhecken sehen, die in dieser Gegend üblich sind, um die Häuser vor dem heftigen Wind zu schützen. Manche sind gut vier Meter hoch. Man nimmt Buchen, weil deren Laub erst im Frühjahr abfällt. Die Wiesen begrenzt man auch mit Buchenhecken. Doch sie werden durch Beschnitt klein gehalten.

Eifeler Bonsai, du weißt schon.

tock tock tock
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Die Zweige der Bonsai-Buchen werden miteinander verflochten, so dass sie zu einem undurchdringlichen Hindernis verwachsen. Man hat es früher in den Wäldern bei Aachen auch mit großen Buchen so gemacht, um die Grenze zu markieren.

Wusstest du eigentlich, dass unser Wort „Wand“ damit zu tun hat?
Bei den Germanen bestanden die Wände in den Häusern aus gewundenen und verflochtenen Zweigen. Dann kamen die Römer und errichteten Mauern. Mit dieser neuen Bautechnik übernahmen unsere Vorfahren auch das Wort „Mauer“. Es ist aus lat. murus entlehnt.

Wenn man sich die Geschichte mancher Wörter ansieht, erfährt man auch etwas über die Alltagskultur vergangener Zeiten.

Du hast Recht. Für Etymologie weht der Wind zu kalt. Ich wollte dich eigentlich nur warnen, damit du nicht vor dem Rascheln der Buchenhecken erschreckst. Sie haben noch altes Laub.

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Eisen auf Eisen rollt sich ab.
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Ich habe es letztens bei Tageslicht gesehen. Bisher sind die Knospen der neuen Blätter noch von altem Laub verdeckt. Im Venn kommt der Frühling spät. Und wir fahren noch viel weiter hinauf.

Guck mal, wir sind gerade mal auf 480 Höhenmetern. Kalterherberg liegt schon bei 600 Metern. Botrange, der höchste Punkt Belgiens liegt 696 Meter über NN, gemessen an dem Meeresspiegel bei Antwerpen. Die Niederländer legen übrigens einen anderen Wert als Normalnull fest, weshalb die Höhenangaben schwanken.

Als Radfahrer willst du es eigentlich genau wissen, und deshalb habe ich früher immer auf den Landkarten nachgeschaut, wie hoch ein Ort liegt, zu dem ich mich heraufgequält hatte.

In Belgien hat man vor einigen Jahren eine Karte für Hobbyradsportler herausgebracht, auf der die genauen Höhenmeter und die Steigungsprozente der Anstiege in den Ardennen angegeben sind. Ich habe im Fernsehen gesehen, wie die Daten gewonnen wurden. Man hatte eine Vorrichtung ähnlich einer großen Wasserwaage im Auto, woran man die Steigungsprozente ablesen konnten.

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Das sind die ersten Häuser von Konzen. Man ist bestimmt schon mit den Hühnern ins Bett gegangen. Meinst du nicht? Wegen der Vogelgrippe bleiben die Konzener jetzt länger auf? Wieso sieht man dann niemanden auf den Straßen?

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Am 13. August wird da an der Konzener Kirche wieder ein großer Menschenauflauf sein. Dort endet der anspruchsvolle Monschau-Marathon. Und weil es so schwer ist, ihn zu laufen, beklatschen die Zuschauer auch den letzten, der ins Ziel torkelt.

Weißt du, was das erste ist, was die Läuferinnen und Läufer tun, wenn sie um die Kirche herumkommen und das Zielband vor sich sehen? Egal, wie tief sie kriechen, der erste Blick geht hoch zur Uhr, die über dem Ziel hängt. Vor dem Herzkasper wollen sie noch wissen, ob sie ihre persönliche Bestzeit unterboten haben. Dann sinken sie dem Sanitäter in die Arme.

Ja, so ist der Mensch, überall muss er messen: die Gegend, sich selbst, seine Mitmenschen … Das ist doch wirklich die Herrschaft der Zahl, die der Medienphilosoph Vilém Flusser heraufdämmern sah.

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Bild und Zahl nehmen die Schrift in die Zange, sagt Flusser.
Klar, wir schreiben viel und lesen viel, eigentlich scheint es gegen Flussers Prophezeiung zu sprechen. Doch durch häufigen Gebrauch nutzen sich die Wörter schneller ab. Ein oft genutztes Wort wird rasch bedeutungsschwach. Da müssen dann neue und stärkere Vokabeln her.

Ich glaube, deshalb wird in der Lyrik so wenig gereimt. Die meisten Reimwörter sind schon zu oft benutzt. Man kann nicht mehr Herz auf Schmerz reimen, ohne sich Banause schimpfen zu lassen. Es ist banal, ja, oder trivial.

Ach könnten wir doch reisen
Ans Ende dieser Welt

Kannst ja mal gucken, ob du darauf noch einen frischen Reim findest.

tock tock
tock

Heute Nacht warst du mir eine besonders liebe Mitfahrerin. Du hast gemerkt, wie ich die Draisine fahre, wenn ich vorher gegen die Pumpe… und hast dich nicht beschwert. Das nächste Teilstück wird dich wieder versöhnen. Dann fahren wir über die Schieferdächer von Monschau hinweg.

Magst du dich einmal noch zu mir herüberneigen?
Ein trockener Kuss auf dein Haar.

Gute Nacht, meine Liebe

Lobe am Abend den Tag
(Spruchweisheit aus der Edda)

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