Abendbummel Online – Durchs Hochmoor mit Bleikugeln im Rock

Fünf Etappen

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Meine Verehrung, Gnädigste. Werden Sie mir heute die Gunst erweisen, mich auf einer nächtlichen Fahrt durch das Hatzevenn zu begleiten?

Du denkst, jetzt ist er durchgeknallt. Dabei habe ich mir nur vorgestellt, du trügest ein schmuckes Reisekostüm aus dem 19. Jahrhundert. Hier am Bahnsteig von Lammersdorf wartete jedenfalls bei der Jungfernfahrt der touristischen Vennbahn eine Reihe von Leuten in historischen Kostümen. Man hatte die Trachten vermutlich aus dem Bauernmuseum, an dessen Rückfront wir gleich vorbeirollen. Das sonntägliche Treiben auf dem Bahnsteig war wirklich hübsch, vor allem weil die Blaskapelle spielte.

Jetzt ist es ziemlich still hier, findest du nicht? Still und dunkel. Der Bahnbetrieb wurde schon 2002 wieder eingestellt. Dort drüben, wo du nur noch den Schotter siehst, hat man schon die Schienen des Ausweichgleises abmontiert. Es war auf dieser einspurigen Strecke die einzige Möglichkeit, einen Gegenzug vorbei zu lassen.

Wenn wir einmal unterwegs sind, können wir also nicht mehr ausweichen. Falls uns ein Geisterzug begegnet. Ja, du guckst. Hast du nie von Geisterzügen gehört? Im Venn ist alles möglich. Nebelschwaden tauchen aus den Mulden auf, wabern übers Land und hüllen dich ein. Und was ist es, was du dort drüben siehst? Ist es ein Strauch oder eine Menschengestalt, die zu dir herüberspäht?

Ich hab nur Spaß gemacht. Komm, ich helfe dir auf die Draisine. Du kannst getrost vor mir hochklettern. Frauen von heute müssen ja nicht mehr aufpassen, sich unschicklich zu bewegen.

Was unschicklich sein könnte? Das Reisekostüm, das du eben getragen hast, um dem Rheingold-Express von Herrn Antwerpes zuzuwinken, diese Tracht stammte ja aus den 20er Jahren. Doch vor der Jahrhundertwende, als unser Gleis erstmals in Betrieb genommen wurde, hättest du einen Rock getragen. Und darum hättest du nach mir aufsteigen müssen.

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Auch die ersten Radfahrerinnen hatten dieses Rockproblem. Ich habe gelesen, dass die Frauen von der neuen Fortbewegungsmethode des Radfahrens begeistert waren. Nie zuvor waren sie beim Reisen so unabhängig gewesen. Doch die schweren Röcke der damaligen Mode waren beim Radfahren hinderlich. Viele Frauen verzichteten deshalb auf den Unterrock.

Radelte dann die Frau fröhlich daher und wehte ihr der Fahrtwind vorwitzig unter den Rock, wurden die Herren am Wegesrand blind. Deshalb gab es Röcke, in deren Saum Bleikugeln eingenäht waren. Du weißt schon, wie man es auch von Gardinen kennt.

Kaum sage ich Fahrtwind, versteckst du dich in deiner Kapuze.
Kannst du mich überhaupt noch hören?
Nein, ich wollte dich nicht betören, mein Herz.

(Schön. Wenn sie mich sowieso kaum versteht, kann ich ja erzählen, was ich will.)

Tock tock tock tock
Tock tock tock
Tock tock

1886 wurde zum ersten Mal das Radrennen Paris-Roubaix gefahren. Es ist irgendwie einleuchtend, dass es eine reine Männerangelegenheit war, was meinst du?
Wenn man als Frau noch ein paar Kilo Blei mitschleppen musste …

Angenommen eine Frau mit einem Bleirock stürzte beim Radfahren in den Graben, dann kam sie doch nie mehr alleine hoch, oder?

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Tock tock tock

Jedenfalls habe ich mir heute den Radklassiker Paris-Roubaix auf dem 2. Programm der NOS angeschaut. Sie übertragen fast das gesamte Rennen.

Die Renner fahren etwa 250 Kilometer durch „die Hölle des Nordens“. Ursprünglich bestand die Strecke aus Kopfsteinpflaster, den so genannten Pavés. Auf Betreiben der Bauern der Region sind in der Vergangenheit allerdings viele Passagen asphaltiert worden.
Inzwischen wurden einige dieser Wirtschaftswege unter Denkmalschutz gestellt. Trotzdem kurvt die Radsportkarawane ganz schön durch die Gegend, um noch Kopfsteinpflaster zu finden. In diesem Jahr hatte die Strecke insgesamt etwa 50 Kilometer Pavés. Die einzelnen Teilstücke sind in absteigender Folge nummeriert und mit eins bis fünf Sternen bewertet. Teilstück Nummer zehn ist die berüchtigtste Kopfsteinpflasterpassage. Es hat fünf Sterne, und Sterne sehen die Radfahrer dort auch, oder besser gesagt, sie fahren sich hier das Weiße aus den Augen, denn oft entscheidet sich auf den 1,4 Kilometern der Passage Nummer zehn das Rennen.

Vorher jedoch habe ich etwas Seltsames gesehen. Da rüttelte eine Gruppe von etwa 10 Radsportlern über das staubige Pflaster. Einer der Favoriten, der Amerikaner George Hincapie, warf plötzlich die Arme hoch, sein Rennrad flog durch die Luft, und er stürzte hinterrücks in den Graben. Es sah aus, als hätte er versucht, auf den Pavés freihändig zu fahren. Später zeigte die Kamera, dass an Hincapies Rennrad der Lenker abgebrochen war. Materialpech, das es im Radsport eher selten gibt. Doch die Mechaniker der einzelnen Mannschaften versuchen allerlei, das Fahren übers Kopfsteinpflaster erträglich zu machen. Hier hatten sie wohl ein bisschen zuviel an der Rennmaschine herumgeschraubt.

Tock tock
Tock tock,

Verdammt, ich habe nicht aufgepasst und bin einfach über die Dorfstraße von Lammersdorf gerauscht. Ja, schimpf ruhig, et hätt jo noch ens joot jejange!

Tock tock

Jetzt verlassen wir den Ort und tauchen ins Hatzevenn ein. Nein, wir versinken nicht, das war ein schlecht gewähltes Verb. Allerdings sind im Venn viele Menschen versunken. Man sieht immer wieder einsame Kreuze, die an sie erinnern.
Versunken, ertrunken, erfroren, ermordet oder einfach nur tot aufgefunden. Das bekannteste Unglückskreuz ist „Das Kreuz der Verlobten“.

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Eisen auf Eisen rollt sich ab

tock tock
tock tock

Das waren die letzten Häuser von Lammersdorf. Jetzt hat uns das Hatzevenn.

Klar, hier rauscht der Wind. Du siehst ja, dass sich im Venn nur niederes Gehölz duckt.
Du kannst nur bizarre Schatten sehen? Du hast Recht. Leider will der Mond nicht richtig durchkommen.

Tock tock tock
Tock tock

Wie laut die Räder der Draisine rattern! Man hört uns meilenweit.

tock tock

Doch wer sollte uns hören. Um diese Zeit wird sich kein normaler Mensch im Venn aufhalten.

Die Durchquerung des Venns war einst gefährlich. Man konnte leicht vom Weg abkommen. Auch schlägt das Wetter rasch um. Plötzlich kommen Nebel oder Schauer auf, die Temperatur fällt. Manch einer hat sich da verirrt und ist an Entkräftung gestorben.

Einmal, an einem Wintertag, machte sich ein verliebtes Paar auf den Weg. Sie wollten beim Pfarrer im Nachbarort das Aufgebot für das kommende Frühjahr bestellen. Da brach ein Schneesturm über sie herein. Sie müssen wohl den Weg verloren haben und sind eine Weile herumgeirrt. Man fand sie erfroren beieinander.

tock tock

Man hat hier das Gefühl, völlig aus der Welt zu sein, findest du nicht?

Das Hatzevenn ist ja auch eine Sorte Niemandsland.

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Das Hatzevenn ist nur ein Ausläufer des Hohen Venns und gehört zu Belgien. Im Westen wird es durch die Bundesstraße Aachen-Trier begrenzt. Auf diesem Teilstück führt die Bundesstraße für einige Kilometer über belgisches Hoheitsgebiet. Wenn da früher ein Auto verunglückte, musste man auf den Unfallwagen aus Eupen warten, obwohl der angrenzende Ort Simmerath sogar ein Krankenhaus hat.

Weiter westlich, im Hohen Venn liegt Baraque Michel. Dort siedelte sich Anfang des 19. Jahrhunderts ein Deutscher an. Er kam, glaube ich, aus dem Ruhrgebiet, und man weiß nicht, was er im Venn wollte. Doch seine Nachkommen richteten eine Notstation für Reisende ein. Sie setzten Licht, und bei Nebel läuteten sie eine Glocke. Aus Dank über seine Errettung hat ein reicher Kaufmann dort eine Kapelle errichten lassen.

Du wartest auch auf Deine Errettung, oder? Du Arme bist ja ganz durchgefroren.

Sieh mal, da scheinen uns schon die Laternen der Bundesstraße. Bevor du „Gesundheitswiederherstellungsmittel“ sagen kannst, sind wir auch schon drüben und erreichen den Simmerrather Haltepunkt.

„Tee!“, hat sie gerufen.

Die Draisine war schneller.

Tock tock tock
tock tock
tock

Wir sind da, und auch noch wohlbehalten.

Ein trockener Kuss auf dein Haar.

Gute Nacht, meine Liebe

„Bist du drüben (lobe) das Eis“
(Spruchweisheit aus der Edda)

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