Times New Roman

Times New Roman

Einfach – mannhaft – englisch


London 1931. Die Geschäftsleitung der Londoner Times erteilt dem Schriftkünstler Stanley Morison den Auftrag, eine neue Brotschrift für den Zeitungssatz zu entwickeln. Die Schrift soll eine Reihe von Bedingungen erfüllen, ästhetische, funktionale und satztechnische. Die Ästhetik: Man will eine Schrift, die einfach, mannhaft und englisch wirkt. Funktion und Satztechnik: Die Schrift soll gut lesbar und sparsam im Satz sein, zudem soll sie dem hohen Pressdruck beim Stereotypieren widerstehen.

=> Morison beginnt mit umfangreichen wissenschaftlichen Untersuchungen und Experimenten, wie sie bislang einmalig in der Entwicklung einer Druckschrift sind. Erst nachdem alle wichtigen Schriften der Vergangenheit auf ihre Qualität hin untersucht worden sind, beginnt man mit den zeichnerischen Entwürfen und Probeschnitten des neuen Alphabets. Es sollen zwischen den anfänglichen Entwürfen und der endgültigen Form 7000 Stempel geschnitten worden sein.

1932 lag die endgültige Fassung vor, genannt: TIMES NEW ROMAN. Die Schrift ersetzte das komplette bisherige Satzmaterial der Londoner Tageszeitung The Times.

=> Inzwischen ist die Times New Roman eine der bekanntesten Schrift der Alphabetkultur. Das war sie schon zu Zeiten der alten Bleisatztechnologie. Mit der Verbreitung der Computer und dem Betriebssystem „Windows“ hat sie sich endgültig an die Spitze aller verwendeten Antiquaschriften gesetzt. Denn von den wenigen Schriften, für die Windows standardmäßig die Lizenz besitzt, ist die Times die beste Brotschrift. Brotschriften, das sind jene Schriften, die für größere Textmengen verwendet werden. Sie heißen so, weil die Schriftsetzer einst ihr Brot mit ihnen verdient haben.

=> Die Times New Roman ist für große Textmengen auf Papier gut geeignet. Dort liest sie sich leicht und wirkt angenehm klar. Wenn man sich jedoch fragt, was denn das „mannhafte“ und „englische“ an ihr sei, dann müssen andere Schriften zum Vergleich herangezogen werden. Trotz der aufwendigen und kostspieligen Entwicklungsarbeit ist die Times keine wirklich neue Schrift. Stilistisch entspricht sie den niederländisch-englischen Spätrenaissance-Schriften. Morison erkannte bald, dass die von ihm gesuchte ideale Form in diesen Schriften schon existierte. (Gleichzeitig bestätigte sich die alte Vermutung, dass die Serifen der Renaissanceschriften die Lesbarkeit positiv beeinflussen, was bedeutet, dass die serifenlosen Schriften, in Deutschland „Groteskschriften“ genannt (franz.: Sans serif), als Brotschriften weniger gut geeignet sind.)

Verglichen mit ihren Vorläufern zeichnet sich die Times durch ihren kräftigen Duktus aus. Das hat auch einen technischen Grund. Im Zeitungssatz der Vergangenheit wurden die fertigen Seiten aus Bleimaterial mit hohem Druck in Pappmatern abgeformt (Stereotypieren). Die Matern wurden dann gebogen und mit Blei ausgegossen, und so gewann man halbrunde Druckplatten aus einem Stück, die für den Rotationsdruck auf die Druckzylinder montiert werden konnten. Vom häufigen Matern wurden die Drucklettern bald regelrecht plattgedrückt, was ihr Druckbild zunehmend unscharf machte. Das war besonders bei Handsatzlettern unerwünscht, denn die mussten ja möglichst häufig wieder verwendet werden. Hier sollte also die Times größeren Widerstand leisten.

abcdefghijklmnopqrstuvwxyz
The quick brown fox jumps over the lazy dog

Es gibt auch einen ästhetischen Grund für den kräftigen Schnitt der Times: Morison war ein Schüler des berühmten Kalligraphen und Schriftschöpfers Edward Johnston (*1872), von dem auch die Schrifttype der Londoner U-Bahn stammt. Johnston wiederum gehörte in seiner Jugend dem Morris-Kreis an. Der Präraffaelit William Morris hatte sich nun ausdrücklich gegen die „Verirrungen“ der Typographie des 19. Jahrhunderts gewandt und besonders die damalige Lehrmeinung getadelt, das Textbild einer Buchseite müsse möglichst hell sein, die Schrift solle grau wirken. Morris vertrat das mittelalterliche Ideal, die gedruckte Kolumne solle so schwarz wie möglich sein, weshalb er kräftige Schriftschnitte propagierte, wie die Schriften in den Büchern seiner berühmten Kelmscott-Press später zeigen.

Dem prägenden Einfluss durch William Morris verdankt die Times New Roman ihre prachtvolle Schwärze, und das ist auch das Englische an ihr; wenn man will, auch das Mannhafte, aber da möchte ich mich nicht festlegen.

=> Am 1. 5. 1992 stellte die deutsche Wochenzeitung DIE ZEIT ihre Brotschrift um, von der 46 Jahre lang benutzten Garamond, benannt nach dem Schriftschöpfer Claude Garamond (um 1480-1561), auf die Times New Roman. Damit wandte man sich vom leichten, hellen, französischen Schriftcharakter, der lange Zeit das stilistische Ideal der kontinentalen Geisteswelt verkörperte, hin zu den bodenständigen, handfesteren Idealen der neueren angelsächsischen Typographie. Das haben viele ZEIT-Leser nicht so leicht nachvollziehen können, wie die unzähligen Protestbriefe auf den Leserbriefseiten zeigten. Nach etwas zwei Jahren kehrte DIE ZEIT reuevoll zu einem Neuschnitt der Garamond zurück.

Die Schrift transportiert eben mehr als den Textinhalt, nur schwingen die Gefühlswerte der Form beim Lesen meistens unbewusst mit. Es wird ein bewusstes Empfinden daraus, wenn die vertraute Gestalt plötzlich durch eine fremde ersetzt wird.

=> Es ist ein seltsamer Effekt des Computers, dass man mit einem einfachen Mausklick eine beliebige Schrift auf den Bildschirm rufen kann, ohne sich der jahrhundertelangen ästhetischen Tradition und deren Geist bewusst zu sein. Immerhin, der Times New Roman ist hier ein wenig Gerechtigkeit widerfahren. Und wer bis hierher durchgehalten hat, wird die Times New Roman gewiss nicht mehr gedankenlos verwenden, sondern besonders dort einsetzen, wo es einfach, mannhaft und englisch zugehen soll.

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9 Kommentare zu Times New Roman

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