Abendbummel Online – Wieder mal was stapeln

Es war nicht wirklich warm im Orsbacher Wald. Die Sonne tut ja zur Zeit gerade mal soviel, dass die Welt nicht ganz erfriert. Gegen drei trübte sich auch der Himmel ein, und sofort fegte ein eiskalter Wind zwischen den kahlen Bäumen hindurch.

In diesem Jahr hat mein Freund ein gutes Los gezogen. Er darf Holz aus der Waldparzelle 21 holen, die nah bei seinem Haus liegt. Doch wir mussten steil den Höhenrücken hinauf. Wir wechselten beim Schieben der Schubkarre ab, in der wir die Motorsäge, eine 2-Liter-Limoflasche mit Sprit, eine Wasserflasche, zwei Äpfel und eine Handsäge transportieren.

Die meisten Parzellen waren bereits ausgeholzt. R. ist spät dran in diesem Jahr. Wir suchten uns den Weg durch die vorderen Parzellen 13 und 17. Der Waldboden war übersät mit Reisig, Sägemehl, frischen Baumstümpfe und wüsten Holzhaufen. Man hatte hier unordentlich gearbeitet, das sah sogar ich.

Am Anfang des Jahres hatte der Stadtförster die Parzellen mit Pflöcken abgesteckt, die Grenzen zusätzlich mit kleinen roten Plastikschleifen markiert. Sie waren in Augenhöhe um Baumstämme gebunden. Einige Stämme trugen grüne Farbkleckse. Diese Bäume hatten es gut, sie würden stehen bleiben. Alle anderen Bäume sollten weg. Es ist eine Sorte Niederwald, und es ist nicht zuerkennen, ob das jahrzehntelange Ausholzen je einen Hochwald wird entstehen lassen. „Der Stadt ist das egal“, sagte R. „Der Förster kümmert sich nicht drum. Sie verdienen an diesem Wald ja nichts.“

Vor einigen Jahrzehnten hatte ein findiger Orsbacher eine mittelalterliche Urkunde entdeckt. Darin wird den Bürgern von Orsbach für ewige Zeiten ein Holzrecht eingeräumt. Die Stadt Aachen musste sich fügen, und das städtische Forstamt übernimmt seither die Organisation. Orsbacher, die den Wunsch äußern, im Wald Holz zu schlagen, beteiligen sich an einem Losverfahren, das ihnen eine der Parzellen zuspricht.

Der Parzellennachbar von R. war wohl nicht in der Lage gewesen, die Markierungen zu deuten. Er hatte in der Parzelle 21 schon einen Teil der Bäume gefällt, die eigentlich R. gehörten. Das angefallene Reisig lag kreuz und quer verstreut. Da war kaum ein Durchkommen mit der Schubkarre.

Als wir losgingen hatte R. noch gesagt: „Ich wollte eigentlich noch mal nachgucken, welche Nummer meine Parzelle hat. Doch ich glaube, ich weiß es auch so. Ich hab’ Parzelle 21.“

So witzelten wir also immer wieder darüber, was eventuell der Fall sei. Einer hatte sich vertan, R. oder der andere „Tuppes“, wie R. sagte. Zuerst mussten wir das Reisig außerhalb der Parzelle aufschichten, das der Tuppes überall verstreut hatte. Reisig ist eine Fußangel. Ja, und wenn man Reisig schichtet, wie wir es getan haben, dann wird bald ein großer fast undurchdringlicher Wall daraus. Unsere Vorfahren haben solche Reisigwälle zu ihrer Verteidigung genutzt. Doch sie hatten keine Motorsäge, wie R. jetzt eine anwarf. Vorher hatte er einen Baumstamm als Stütze bestimmt, an dem wir unseren Holzstapel errichten würden. Denn R. wirft das Holz auch im Wald nicht einfach nur auf einen Haufen. R. ist Künstler. Er stapelt Holz, dass es ein Gedicht ist. Vorne ist der Stapel bündig, und es wechseln die Lagen von dicken Stämmen zu dünnen Hölzern. So habe ich seine Stapel schon oft im Wald gesehen. Seine Parzelle erkennt man am Stapel. Dabei ist es nur ein Stapel, den er bald abtragen wird. Denn das Holz muss ja aus dem Wald herausgebracht werden. Es gab auch schon Holzdiebe, die nachts vorgefahren sind und sich einen Stapel Holz auf den Hänger geladen haben.

In diesem Jahr habe ich den Stapel angelegt. Ich habe R. natürlich kopiert und die Hölzer so ähnlich gestapelt wie er. Manchmal habe ich auch die vordere Seite mit einem dicken Stammstück bündig geklopft.

R. sägte sich übrigens im Verlauf des Nachmittags einmal in die Stahlkappe seines Schuhs, einmal fast ins Knie. Mir fiel beinahe ein Baum auf den Kopf, der sich zuerst in den Wipfeln anderer Bäume verfing und dann einen Bogen beschrieb, bevor er fiel. Auch ist es keine Freude, im Wald eine Motorsäge zu hören. Die Pausen sind dir dann allerdings wie Musik in den Ohren. Denn es gibt einige Vögel, die schon leise piepsen und zaghaft singen.

„Man sieht noch keine Knospen“, sagte ich zwischendurch.
„Doch“, sagte R. und zeigte auf einen Holunder. Schade, er hatte ihn kurz zuvor abgesägt: Den ersten im Wald, der gegen die Kälte aufmuckt.

Auf dem Rückweg sahen wir am Himmel fünf Schwärme von Wildgänsen. Wir hörten ihr Schreien. Vielleicht war es auch ein Schimpfen. Denn man hat sie vermutlich zu Unrecht verdächtigt, das Vogelgrippevirus zu verbreiten. Es soll andere Verbreitungswege geben, zum Beispiel geschmuggeltes Hühnerfleisch aus China, das bei uns auch zu Hühnerfutter verarbeitet wird.

Es ist übrigens schon deutlich mehr Ordnung im Wald gewesen, als wir ihn verließen. Man kann unsere Aufräumaktion ablehnen und einen Urwald vorziehen. Doch wenn man einen Wald nutzen will und ihn auch durchwandern, dann muss die Natur geordnet werden. Zudem gäbe es heute kein Ackerland, es gäbe keine Freiflächen für Städte und Dörfer, wenn unsere Vorfahren den Wald nicht gerodet hätten. Es muss ein ziemliches Schuften gewesen sein. Mir tun schon von Parzelle 21 im Orsbacher Wald alle Knochen weh. Wir haben übrigens in der richtigen Parzelle gearbeitet. Der andere war tatsächlich ein Tuppes.

Ich hatte also einen schönen Nachmittag in der Natur. Doch es ist nicht schön, die Axt oder die Säge an einen Baum zu legen. Wenn ich Holzrecht hätte, würde ich es vermutlich nicht wahrnehmen. Ein Baum ächzt, wenn er fällt. Und man muss sich im Holz wirklich schinden.

Der Geschichtswissenschaftler Horst Fuhrmann nennt das Mittelalter „Zeit der Fälschungen“. Als nur wenige des Schreibens mächtig waren, konnte man Urkunden leicht fälschen. Die „Konstantinische Schenkung“ ist eine solche Fälschung. Am Ende, so dachte ich einmal, als ich den Holzstapel richtete, am Ende ist die Orsbacher Holzrechturkunde auch gefälscht. Das ist eine hübsche Vorstellung, denn gemeinhin waren es die Mächtigen, die von Urkundenfälschungen profitiert haben.

In Zukunft werde ich mich noch viel lieber an R.s Kaminofen wärmen, bei der Vorstellung, die Sache mit dem Holzrecht sei getürkt.

Guten Abend

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