Neues von den Totengräbern der Schriftsprache

Im August 2004, auf dem Höhepunkt des Gezänks um die Orthographiereform, schrieb der Schriftsteller Rainer Kunze in der F.A.Z.:

„Ich habe schon einmal gegen eine Mauer gekämpft, und das in dem Bewußtsein, ihren Fall selbst nicht mehr zu erleben – und plötzlich war die Mauer gefallen. Seit acht Jahren kämpfe ich wieder gegen eine Mauer, die diesmal nicht durch mein Land, sondern durch meine Sprache verläuft und durch Sprach- und Kulturvernunft nicht zu Fall zu bringen ist. Einzig durch Macht – die Macht der Öffentlichkeit.“

Die Mauer, gegen die der DDR-Dissident Kunze einst gekämpft hat, hatte einen Todesstreifen, es gab Wachtürme und einen Schießbefehl für die Wachtposten. Menschen sind erschossen worden und verbluteten im Stacheldrahtverhau, – die älteren unter uns erinnern sich mit Schaudern. Diese Mauer gleichzusetzen mit einer imaginären Mauer, die durch die Rechtschreibreform verursacht worden sein soll, ist der komplette Hirnriss und eine Frechheit gegenüber all jenen, die unter der Mauer gelitten haben oder dort ihr Leben ließen. Wann und wo ist Herr Kunze denn an Leib und Leben bedroht worden, weil er sich gegen die Rechtschreibreform wandte? Das Gegenteil ist der Fall. Er wurde hofiert und bekam die Gelegenheit, sich öffentlich in der F.A.Z. zu äußern und damit das schwindende Interesse an seinen Texten aufzupolieren.

Seine Einwände gegen die Orthographiereform habe ich gelesen. In einigen Punkten kann ich ihm sogar zustimmen. Doch hat man ihn etwa mit dem Maschinengewehr im Anschlag gezwungen, seine Texte in neuer Rechtschreibung zu verfassen?

=> Gestern war in der F.A.Z. zu lesen, dass Kunze seinen Rechtstreit gegen einen bayerischen Schulbuchverlag gewonnen hat. Der Schulbuchverlag hatte einen Text von Kunze gegen seinen Willen in neue Rechtschreibung übertragen. Ich weiß nicht, wie der Schulbuchverlag bei der Neuauflage des entsprechenden Buches verfahren wird. Doch ich hoffe inständig, dass man seinen Text weglassen wird. Wer in Deutschland als Schriftsteller „schulbuchtauglich“ ist, sollte es als eine Ehrung ansehen, dass deutsche Schüler seine Texte im Unterricht kennen lernen und sich damit geistig auseinandersetzen. Wo käme man hin, wenn jeder Fritz festlegen könnte, in welcher Orthographie sein Text zu erscheinen habe? Dieses Recht stehen wir nicht einmal den großen Dichtern der Vergangenheit zu, die ihre Werke verfasst haben, als Konrad Duden oder Herr Kunze noch irgendwo auf dem Mond herumschwammen.

Kunze ließ verlauten, er werde „auch künftig all das zurückweisen, was das Sprachgefühl der Kinder, die intuitive, vom Regelwissen unabhängige Sprachkompetenz beschädigt.“ Das ist gequirlter Quark. Eine solche „intuitive Sprachkompetenz“ gibt es nicht. Oder werden deutsche Kinder etwa mit dem Duden im Maul geboren, bzw. wird Rechtschreibung mit der Muttermilch ausgeteilt? Es gibt keine unverrückbaren Regeln der Orthographie. Wer wider besseres Wissen derartiges behauptet, ist ein Leuteverdummer.

Deutsche Schüler haben ohnehin zu leiden unter dieser Reformpanne und dem Ausscheren einiger Verlagshäuser und Zeitungen. Die Verwirrung ist groß genug. Dieses Chaos noch durch persönliche Eitelkeiten zu verschlimmern, ist verantwortungslos.

=> Unsere Rechtschreibung war dringend reformbedürftig. Das unkontrollierte Treiben der wechselnden Dudenredaktionen hatte zu konfusen Erscheinungen in der Rechtschreibung geführt. Das Regelwerk war über Jahrzehnte hinweg ohne Not immer weiter ausdifferenziert worden. Die vom Duden ausgehende Gängelung der Deutschen war skandalös. Einen privatwirtschaftlichen Verlag schalten und walten zu lassen, ihm das Monopol auf die Verbreitung der „amtlichen Regeln“ zu überlassen, das war der eigentliche Fehler. Denn mit der Rechtschreibunsicherheit der Menschen war eine Menge Geld zu verdienen. Deshalb hatte man im Dudenverlag kein Interesse an einer Reform, die mit unsinnigen Regelungen aufräumt. Im Gegenteil, man hat sie von Auflage zu Auflage erweitert.

Doch warum ist die Reform so missraten? Es lag einerseits an der Eitelkeit der Beteiligten, die eifersüchtig ihre Reformideen vertraten und am Geheule und verbohrten Insistieren derer, die man nicht gefragt hatte, die sich jedoch als Sachwalter der deutschen Sprache betrachten. Am Ende waren die Reformer froh, sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt zu haben.

Die Chance auf eine vernünftige Orthographiereform ist für Jahrzehnte vertan. Die allgemeine Verwirrung und Verunsicherung ist groß. Wer jetzt weiterhin nachkartet wie Herr Kunze und Konsorten, hat nicht begriffen, dass es sprachwissenschaftlich betrachtet völlig gleichgültig ist, wie wir ein Wort schreiben. Allein eine Übereinstimmung muss erzielt werden. Doch diese Übereinstimmung wird unmöglich gemacht durch Prozesshansel und andere Eiferer, die sich letzten Endes nur ins Gespräch bringen wollen. Sie sollten durch Leistung überzeugen, nicht durch kleingeistiges Beharren.

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