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Nachtschwärmer Online
Viadukt von Plombieres – wir fahren hinüber!


Wenn du vier Runden im Stadion läufst – hast du das schon einmal getan? Früher bin ich im Winter bei Flutlicht im Waldstadion gelaufen. Es war mein Wintertraining, als ich noch Radsport machte. Dann habe ich mir immer eine Handvoll kleiner Steine genommen, sie abgezählt, bin los, und habe nach jeder Runde ein Steinchen weggeworfen, damit ich nicht zu zählen brauchte, weißt du?
Man kann das Gehirn von vielen Sachen entlasten und nur die Hände machen lassen. So geht es auch mit dem Herzen. Wenn es schmerzt, jetzt metaphorisch gesprochen, dann tust du eben was Gutes mit den Händen/Füßen oder lässt Licht in deinen Kopf, indem du was Gutes liest oder mit einem sprichst, der stabiler ist als du.

Klar, du kennst den Trick.
Also vier Runden um die Bahn im Waldstadion – etwa so lang ist der Viadukt von Bleyberg/Plombieres. 1560 Meter – gewaltig, oder? Für so ein kleines Land wie Belgien.

Weißt du, was ich mal ausprobieren will? – Übrigens wir sehen den Mond noch immer nicht. Ist er etwa ganz weg? Und lausig kalt, oder? Du hast Handschuhe bei dir? Ich würde die Finger hinein schieben. Wenn wir erst einmal auf der Brücke sind, pfeift der Wind ordentlich. Der weht immer auf einer Brücke, obwohl die Luft insgesamt steht. Das habe ich nicht gerne, eine kaltfeuchte stehende Luft in einer langen Winternacht.

Können wir? Bist du bereit für die Überfahrt? Dann fahren wir langsam los.
Eisen – auf – Eisen – rollt – sich – ab – tock – tock …

Was ich ausprobieren will? Guck mal, siehst du diesen hellen Streifen am Horizont? Es ist die Autobahn nach Lüttich. Die Belgier sagen immer, sie seien eigentlich pleite. Doch die Autobahnen beleuchten sie wie Christbäume. Man soll das Licht angeblich vom Mond aus sehen können. Jetzt leider nicht mehr – er scheint ja weg zu sein.
Irgendwie schade. Ich mochte die „alte Säufersonne“.
Stimmt sowieso nicht ganz. Man soll das Licht aus dem Weltall sehen können, wenn man in einer Kapsel auf einer Umlaufbahn um die Erde saust. Ganz allein in einer engen Umgebung aus Plastik und Metall, draußen die Schwärze, das Nichts, der unweigerliche Tod. Man muss schon besonders gestrickt sein, um das auszuhalten, oder? Als in der ehemaligen Sowjetunion plötzlich Glasnost einsetzte, haben sie beinahe einen ihrer Astronauten dort oben vergessen.

Dagegen ist es doch nichts, hier auf der Brücke über das Tal zu gleiten.
tock – tock
Wenn es dir nichts ausmacht, versuche ich einmal, genau über dem Flussbett der Geule anzuhalten. Ich würde gerne einen Schotterstein nehmen und gucken, ob ich die Geule treffe.
Nein, da wohnt niemand in der Nähe. Hier etwa unter uns, ist der erste Pfeiler. Daneben ist ein Friedhof, und danach folgen nur Wiesen und alte Schüttungen. Ja, eine Straße, ich gebe es zu, gibt es auch noch da unten.

Na gut, denn spucke ich eben nur ins Tal. Die Geule treffe ich dann vermutlich nicht. Man sieht sie auch kaum. Die Nacht im Tal ist zu schwarz.
Achtung! Wir halten.

tock – tock – tock
tock – tock
tock

Hab keine Angst, ich bin gleich wieder da!

„Komisch ich dachte, die Brücke ist erst unlängst restauriert worden. Dann haben sie wohl das Geländer vergessen.“

Ich traue mich kaum, mich hinüberzubeugen. Das ist hier alles rostiges Eisen, hörst du!

Ja, und wenn ich dagegen drücke, gibt es…

naaaaaaaa..a…a….a…..a…….a……..a……….c………h…….…!

“Achtung!!! – Von oben kommt was!!!”

=>

„Hallo! Ich bin’s“.
Entschuldige bitte, ich habe nur Spaß gemacht. Ja, im Dunklen kann man sich leicht täuschen lassen, das hast du gemerkt. Ich bin einfach in die Hocke gegangen, schon denkst du, ich segele nach unten.

Mach mal Platz, dass ich wieder auf die Draisine kann. Danke! Oh, man reicht mir die Hand. Das ist ja was ganz Neues. Ist jedoch gut so. Wenn jemand abgestürzt ist, braucht er eine Hand. Mal angenommen, ich wäre jetzt wirklich abgestürzt. Jetzt hast du mir ja vermutlich die Hand gereicht, weil du froh bist, mich wieder neben dir zu haben. Na ja, meine Witze sind manchmal ein bisschen geschmacklos, doch irgendwann mache ich mal einen guten, das verspreche ich dir. Ich übe ja noch.

Wir fahren ein kleines Stück.
tock – tock – tock

Hör mal, ich habe eine verrückte Geschichte gehört. Irgendwann um die vorletzte Jahrhundertwende herum haben deutsche Ingenieure in Anatolien eine Eisenbahnlinie gebaut. Dazu waren viele Tunnel und Brückenbauwerke nötig. Eine dieser hohen Brücken hat einen seltsamen Namen. Er geht auf einen deutschen Ingenieur zurück. Der Ingenieur ist leider von der Brücke zu Tode gestürzt. Unten am Fuß der Pfeiler arbeiteten jedoch viele anatolische Hilfskräfte. Als der Mann in die Tiefe fiel, hat er die Leute gewarnt und gerufen:
„Achtung, hier kommt noch was!“
So heißt die Brücke jetzt: „Hierkommtnochwas“.

tock – tock – tock

Irgendwie steckt in jedem Menschen etwas Großes. Man muss nur herankommen. Schade, wenn es den eigenen Tod bedeutet. Doch dieser Ingenieur war bestimmt auch im Leben ein guter Mann.

Ja, ich bin heute Nacht ein wenig philosophisch.

tock – tock

Guck mal zurück, jetzt kannst du den Friedhof von Plombieres sehen. Ist schon seltsam. Der Ort liegt wie ausgestorben, doch auf dem Friedhof flackern rote Lichter. Sie haben unheimliche Friedhöfe in Belgien. Den von Limburg kann ich dir zeigen. Er ist ganz in der Nähe.
Limburg war einst die Hauptstadt der großen Provinz. Heute liegt es wie ausgestorben oberhalb von Dolhain. Man findet die Auffahrt dorthin kaum, denn die Belgier sind nachlässig mit dem Ausschildern.

Kommst du hinauf, tauchst du ins ausgehende Mittelalter ein. Es ist nur eine sehr kleine Stadt, und man hat das Gefühl, die Zeit ist dort stehen geblieben. Ist sie natürlich nicht, denn du siehst eine Frau mit nur einem Bein. Den Beinstumpf stützt sie auf ein seltsames hölzernes Hilfsgerät, was sicher aus der Zeit des ersten Weltkriegs stammt. Und sie humpelt herum, als sei es völlig alltäglich. Auf mich wirkt es gruselig. Und du? Ein Kind habe ich hier noch nie gesehen. Und jetzt im Dunkeln werden wir erst recht keines zu sehen bekommen. Die Alte von eben ist wieder ins Haus gehumpelt. Ich glaube, sie hat die Läden dicht gemacht.
Wie es wohl aussieht bei ihr drinnen? Ob sie sich mit weiteren alten Dingen umgeben hat, angesammelt von den Generationen?

Sie haben früher sehr viel Wert auf die Bestattungskultur gelegt. Denn die Region hier war einmal reich wegen der Stahlindustrie im Wesertal und entlang der Maas. Komm, wir brauchen das Schild an der Friedhofspforte nicht zu beachten, von wegen: „Nach Einbruch der Dunkelheit geschlossen“!
Die eiserne Pforte schließt überhaupt nicht. Mein Vater war übrigens Kunstschmied, wusstest du das? Er konnte solch verschlungene Stäbe schmieden. Ach, die quietscht in den Angeln, was?

Sieh mal, rund um die Kirche, den Hang hinunter erstreckt sich der Friedhof. Und in der Kirche haben sie noch eine Gruft. Ich war einmal darin. Sie hat zum Hang hin kleine Fenster. Wie Kirchenfenster sind sie, doch zwischen den Bleistegen farblos wie Totenbleiche.
Wir gehen nicht hinein. Die Kirche hat kein Licht, und wenn wir im Dunkeln den Schalter nicht finden, rammen wir uns noch die Köpfe irgendwo an.

Nein, ich wollte dir die prächtigen Mausoleen und Grabplatten zeigen. Alles ist in einem schrecklichen Zustand. Die steinernen Grabplatten sind gemeißelt aus dem Blaustein der Region. Doch die meisten sind zerborsten, als sei ein Racheengel mit böser Wut über den Friedhof geschritten und hätte jede einzelne Grabplatte mit schrecklichem Grimm zertrümmert.
Hier hängt ein feuchtkalter Hauch in der Luft, stimmt’s? Dein Gesicht ist nass wie nach einem Regenguss. Vorsicht, hier ist auch überall der Boden eingesackt. Komm lieber etwas näher, ich kenne mich ein bisschen aus hier. Bin froh, dass du bei mir bist. Alleine mitten auf dem uralten Limburger Friedhof in einer solch mondlosen diesigen Nacht – das wäre nicht ganz angenehm, oder?
Die sind ja tot dort unter den Plattentrümmern. Doch ich frage mich, warum legt man so schwere Platten auf die Toten. Doch hoffentlich nicht, weil sie sonst nach Belieben aufstehen…

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Das Mausoleum hier ist das prächtigste auf dem ganzen Friedhof. In Verviers gibt es einen, der ist mindestens 10 mal so groß. Dort stehen die Mausoleen wie Häuserreihen. Genauso zerfallen wie dieses hier. Es hat einen steinernen Engel oben auf dem Dach. Er sieht unheimlich aus, so gegen den Nachthimmel, oder? Das Mausoleum sieht aus wie mehrstöckiger Sarg für Zyklopen. Doch es liegen tote Menschen darin. Also ihre sterblichen Hüllen, die Skelette, – ich weiß nicht, was von denen noch übrig ist.
Ich habe übrigens hier unten an dem Feuerzeug, es stammt aus der Tankstelle bei mir um die Ecke, daran habe ich erst spät entdeckt, was der kleine weiße Knopf an der Unterseite soll. Es ist eine kleine Taschenlampe – sie wirft ein blaues Licht, siehst du?
Ich leuchte mal ins Mausoleum. Hast du Angst, wenn ich die Eisentür aufschiebe?

Schon passiert, ich habe nichts gemacht, ehrlich. Sie ist von alleine aufgeschwungen. Na ja, ich hab sie berührt, es ist keine Geistererscheinung. Siehst du, die Grabkapelle ist leer. Was es mit dem umgestürzten hölzernen Caféhausstuhl auf sich hat?
Das wäre jetzt zu lang zu erklären, du kannst es irgendwann mal in dem Kriminalroman lesen, den ich mit einem Freund geschrieben habe.

Ja, aus der Mitte der Steinfliesen stößt der Gang in die Tiefe, der zu den eigentlichen Grabkammern führt. Sie liegen dort unten dicht an dicht, an die zwanzig Tote!

Ein schwarzer Schatten, mein Licht erhellt ihn nicht.

„Warum findest du keine Ruhe, alter Mann? Hast du vielleicht in deinem Leben nicht so gehandelt, dass du mit Recht einen Engel auf dem Dach deines Grabes trägst? Bist du etwa ein Waffenfabrikant gewesen und hast Maschinengewehre hergestellt, damit die fehlgeleiteten flämischen Bauernsöhne im Belgisch Kongo aufständische schwarze Menschen erschießen konnten?
Ist es so?! Dann findest du mit Recht keine Ruhe, geh um in deinem Grab und denke über deine Sünden nach!“

Komm, wir gehen, hier ist die Luft schlecht.
Das Licht nehmen wir auch wieder mit. Ich muss nicht zu jedem freundlich sein.

Tja, das war ein Ausflug was? Da bist du glatt froh, wieder auf der Draisine über dem Tal der Geule zu sein. Wir gleiten noch ein Stück, damit du dich wieder beruhigst. Du bist so tapfer gewesen, meine Liebe!
Ja, Frauen können sehr beherzt sein. „Schwaches Geschlecht“? Von wegen!

Tock –tock – tock

Eigentlich ist es doch eine schöne Nacht. Spannender als sonst vielleicht, doch jetzt ist sie gut!
Wusstest du eigentlich, dass der Frühling immer durch die Flusstäler kommt?

Gute Nacht, meine Lieben!

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