Rückwärts Lesen

Eines schönen Morgens kommt Lisa zu mir und sagt in scherzhaftem Ton: „Fahren wir, Euer Exzellenz. Es ist alles bereit.“
Man bringt meine Exzellenz auf die Straße, setzt sie in eine Droschke und fährt los. Aus Langeweile lese ich die Firmenschilder von rechts nach links. Aus dem Wort „Drogerie“ ergibt sich „Eiregord“ – das klingt wie ein irischer Name.
(Anton Tschechow: Eine langweilige Geschichte)

Tschechows gelangweilte Exzellenz gewinnt den altbekannten Wörtern durch Rückwärtslesen einen neuen Aspekt und somit ein wenig Gedankennahrung ab.

Ähnlich verfährt Kurt Schwitters, der seine langweilige Heimatstadt Hannover probeweise umdreht: „re von nah“ kommt heraus, das ist: „rückwärts von nah“. Und siehe da, jetzt bedeutet Hannover: „Vorwärts nach weit. Das heißt also: Hannover strebt vorwärts, und zwar ins Unermeßliche. Anna Blume hingegen ist von hinten wie von vorne: A-N-N-A.“ (Hannover, 1920).

Später spiegelt Schwitters aus Hannover die groteske Stadt Revon, in der es eine Revolution gibt, weil ein Mann einfach herumsteht. (Franz Müllers Drahtfrühling, um 1920)

„rebotco 7771“ unterschreibt der verspielte Mozart einen Brief in Umkehrlaune. Auch das Umdrehen des eigenen Namens ist beliebt: Der Palaeograph Wattenbach fand solche Spielereien schon bei mittelalterlichen Schreibern:

„Ego sum, qui sum: noch weist du nicht, wer ich ben. Suroffotsirc ist der name meyn, rot den bal obiral.“
(Nachschrift des Schreibers Christofferus in einer Kornrechnung der Schweidnitzer Pfarre von 1427.)

Rückwärtslesen ist nicht einfach eine Umkehrung des Leseprozesses, denn während der geübte Leser beim normalen Lesevorgang Wortbilder erkennt, muss er beim Rückwärtslesen mühsam buchstabieren. Besonders schwer fallen die Stellen, wo ein Laut mit zwei oder drei Buchstaben wiedergegeben ist (ch, sch) oder Buchstabenkombinationen, die beim Umdrehen einen neuen Lautwert bekommen (ie=ei).
Menschen mit ausgeprägter Bildvorstellung, sogenannte Eidetiker, beherrschen die Kunst des spontanen Rückwärtssprechens, indem sie das Wortbild im Geiste ablesen. Nach Victor Hobi konnte die Eidetikerin Sue d’Onim z. B. sofort das Wort „rückwärts“ als „sträwkcür“ lesen, nachdem sie es gehört hatte, ebenso ganze Sätze, wenn sie nicht länger als sechs Wörter waren.

Das Rückwärtslesen und -sprechen hat seinen Ursprung in magischen Vorstellungen. Zaubersprüche und Flüche können nur durch Rückwärtssprechen wieder zurückgenommen werden.

Eine Volkssage aus Süddeutschland erzählt von zwei Bauersleuten, die ein Zauberbuch besaßen. An einem Sonntagvormittag ließen sie das Buch versehentlich offen liegen und gingen zur Kirche. Ein neugieriger Hirtenjunge fand es und las unbefugter Weise darin. Während der Messe fiel den Eheleuten das Versehen ein. Sie eilten noch vor dem Segen zurück. Als sie eintrafen, stand in der Stube bereits der Teufel, um den Hirtenjungen zu holen. Da schüttete der Bauer ein Maß Weizenkörner auf die Dielen und zwang den Teufel, sie aufzuheben. Die Zeit, bis das letzte Korn aufgehoben war, nutzte der Bauer, um das Buch wieder rückwärts zu lesen. Dadurch war der Teufel geprellt und mußte wieder abziehen. (Nach Lutz Röhrich).

Der Theologe Gottfried Holtz sagt: „in den Sagen wimmelt es von Berichten, dass der Zauber nicht wieder gelöst werden konnte, weil ein Lehrling, ein halber Könner nichts vom Rückwärtslesen der Formel wusste.“

Wie ungeheuerlich und machtvoll muss da ein Name, Bannfluch oder Zauberspruch in Form eines Palindroms gewesen sein.
Das Palindrom ist der nicht mehr zu lösende Spruch, ein wahrer VERSUS DIABOLICUS.

Kurt Schwitters ist ja von seiner „Anna Blume“ auch nicht mehr losgekommen.

(Trithemius dankt mauzzzz für die Anregung!)

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