Aprilenbot, Aprilenbot, schick den Narren weiter

„Item sahen wir die schole, da unsere liebe frawe in lernt schriben und lesen“,

… behauptete der Graf von Katzenellenbogen, als er 1433 von seiner Jerusalemfahrt zurückkehrte.

Ja, er hatte wohl nach anderthalb Jahrtausenden noch das Hl. Tintenfass gefunden. Die Tinte war aber wahrscheinlich schon ein bisschen eingetrocknet. Die fälschliche Annahme, Maria, die Mutter Jesu, habe lesen und schreiben gelernt, entspringt dem ehrfürchtigen Verhältnis des Mittelalters zur Schrift. In einer Zeit, in der Schriftkenntnis als Vorzug, ja geradezu als göttliche Gabe angesehen wurde, ist schon die bloße Vorstellung einer schriftunkundigen Heiligen Familie ein Sakrileg. Die Bibel gibt jedoch keinerlei Hinweis, dass Jesus, Maria oder Josef Schriftkenntnis besessen hätten. Sie alle entstammten dem einfachen Volk, und das war zu jener Zeit schriftlos, die Schrift blieb einer kleinen gebildeten Kaste vorbehalten, den Pharisäern.

Das ist auch in Europa so, bis weit über die Zeit des Grafen von Katzenellenbogen hinaus. Selbst die Erfindung des Buchdrucks um 1440 änderte daran vorläufig nichts. Als Thomas Münzer sich 1525 nach der Niederlage des Bauernheeres zwischen seinen Leuten versteckt hielt, wurde er von den Schergen der Landesherren erkannt und gefangen, weil er ein Bündel Briefe bei sich trug. Er konnte also kein einfacher Bauer sein.

Die Technik des Lesens galt dem einfachen Volk als Geheimlehre. Schriftkenntnis war nur mit göttlicher Hilfe zu erlangen:

„…wils Gott haben, das ich die schrifft leren soll, so beschichts gewiszlich, dann Got ist alle ding moeglich“,
seufzt Fabritius (16. Jahrhundert).

Für das Jahr 1770 schätzt Rudolf Schenda den Anteil potentieller Leser auf 15 Prozent, im Jahr 1800 auf 25 Prozent der Bevölkerung Deutschlands, wobei Lesen und Schreiben als Fähigkeiten getrennt gesehen werden müssen, das heißt, wer lesen konnte, musste nicht zwingend auch schreiben können.

Wenn also noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Zahl der Schriftkundigen so niedrig war, wird deutlich, dass der Begriff des Analphabeten in seiner stigmatisierenden Bedeutung eine Erscheinung des 20. Jahrhunderts ist. Denn auch zum Ende des 19. Jahrhunderts war Geläufigkeit im Lesen und Schreiben nicht überall erklärtes Bildungsziel. 1872 schrieb der preußische Konsistorialrat Münchmeyer:

„Wo keine Lust zum Lesen ist, rege man sie nicht an. Es ist nicht zu wünschen, dass der Bauer Zeitungen liest, auch das Verlangen nach guter Lektüre soll, wenigstens unter Landleuten, nicht hervorgerufen werden.“

Hier wird uneingeschränkte Schriftkenntnis noch als Herrschaftswissen verstanden, das zum Funktionieren landwirtschaftlicher Produktionsabläufe nicht beiträgt, sondern eher hinderlich ist. Die Angst, der einfache Landmann oder lohnabhängige Arbeiter könne über das Lesen mit subversivem Gedankengut in Berührung kommen, ist noch größer als der ökonomische Zwang zur schriftlichen Kommunikationsfähigkeit aller Bevölkerungsschichten. Heute ist in den Industriegesellschaften Schriftkenntnis die Norm. Wer sie nicht erfüllt, ist Analphabet und gilt als verächtlich.

Deutschland hat derzeit etwa 2 Millionen Analphabeten und schneidet somit besser als die Kulturnation Frankreich ab. Am 20.2.1996 meldete dpa, laut Bericht einer von der französischen Regierung beauftragten Arbeitsgruppe sei jeder 5. Franzose Illiterat.

Viele Jugendliche verlassen die Schule als „funktionale Analphabeten“, das heißt, ihre Kenntnisse sind so gering, dass sie den alltäglichen Anforderungen nicht genügen. Einigen von ihnen gelingt der „Schriftbluff“ (Ulrich Hecker). Sie entwickeln Vermeidungsstrategien, mit denen sie sogar ihre Lehrer täuschen.

Die Süddeutsche Zeitung berichtete schon vor Jahren:
„Schiebung an US-Colleges“.
Bekanntgeworden war der Fall des Star-Verteidigers der Washington Redskins, Dexter Manley, der als „Studierter Analphabet“ problemlos Schule und College absolviert hatte. Manley gab an: „Ich war eben ein guter Schauspieler. Auf dem College hat meine Freundin meine Aufgaben gemacht, Aufsätze und Tests für mich geschrieben.“

Die Lehrer hätten wegen seiner hervorragenden sportlichen Leistungen alle Augen zugedrückt. Auch der US-Schauspieler Tom Cruise ist ein solcher Fall. Unter der Überschrift: „Großer Star mit kleinem Geheimnis“ bildete die Fernsehzeitschrift GONG einmal Tom Cruise mit einem Football in der Hand ab und schrieb dazu, er sei „Legastheniker“. Der beliebte Filmstar habe umgerechnet 25.000 Euro an die „Legastheniker-Hilfe“ gespendet und bekannt, dass er sich komplizierte Drehbücher von seiner Freundin vorlesen lasse. Wenig später war der Presse die in diesem Zusammenhang irritierende Nachricht zu entnehmen, Tom Cruise habe sein Tagebuch verloren. Ob er vielleicht einen Strichmännchenkode darin verwendet hat?

Das Verspotten von Schriftunkundigen hat bereits Tradition. Bächtold-Stäubli beschreibt im „Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens“ einen Brauch aus Württemberg: Am ersten April „schickt man die Kinder in die Häuser mit einem Zettel, auf dem steht:

Aprilenbot, Aprilenbot!
Schick den Narren weiter
Gib ihm auch ein Stücklein Brot,
Dass er net vergebens goht.“

Wenn die Zahl der Analphabeten in den Industrienationen trotz aller Bildungsbemühungen wächst, dann ist der Höhepunkt der Alphabetisierung offenbar überschritten. Ja, es könnte sogar sein, dass wir in Wahrheit den schleichenden Prozess der Analphabetisierung beobachten. Innerhalb der Alphabetkulturen muss man sich wohl damit abfinden, dass Analphabeten zunehmend ihren Anteil an den politischen und kulturellen Entscheidungsprozessen haben, und sei es nur dadurch, dass sie nicht votieren und sich dem öffentlichen Diskurs entziehen.

Die Dominanz medialer Bildwelten und die damit verbundene Abwertung der Schrift könnten sogar in absehbarer Zeit den stolz bekennenden Analphabeten hervorbringen, der bewusst auf die Kulturtechnik Lesen im heutigen Sinne verzichtet. Gleichzeitig mit der Abwertung der Schrift wird ein neuer Typus zum Problemfall: der Computeranalphabet.

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