Einiges über Handschrift

Die Schriftzumutung

Das Beispiel dieser schwer lesbaren Handschriften stammt aus der Deutschklausur eines Schülers der Stufe 12. Die Bemerkungen links hat sein Lehrer geschrieben. Es heißt:

Die Unverständlichkeit des Satzes liegt z. T an der Schrift
Die Schrift ist eine Zumutung!

Schule und Universität sind die Nischen, in denen die Handschrift noch tragende Bedeutung hat. Lehrern, Schülern und Studenten wird der Wert einer klaren und schönen Schrift beständig vor Augen geführt. Wie kommt es dann zu den kläglichen Ergebnissen, die man täglich beobachten kann und unter denen alle Beteiligten zu leiden haben? Warum sind so viele Schreiber mit ihrer eigenen Handschrift unzufrieden und schämen sich sogar, Schriftproben in die Öffentlichkeit gelangen zu lassen?

Ein Faktor ist sicherlich der Zwang zum schnellen Schreiben beim Abfassen von Klassenarbeiten und Klausuren, Korrekturvermerken, Mitschriften und Notizen. Generell führen große Textmengen beim Schreiber zu unerquicklichen graphischen Ausfällen, bei Müdigkeit und Nachlassen der Konzentration. Auch das Verkrampfen der Hand (Chirospasmus) beim Vielschreiben bzw. beim Schreiben mit einem Kugelschreiber beeinträchtigt die Form der Handschrift. Der Hauptgrund für den Zustand der Handschrift ist in der Vergangenheit zu suchen, bei den Prozessen, die mit dem Erlernen der Schrift zu tun haben und bei den Ausgangsformen, mit denen man die ersten Schreibversuche macht.

Ein Blick in die Vergangenheit
Wie sieht eigentlich die Urform unserer Handschrift aus? Die moderne Handschrift hat sich im Italien der Renaissance herausgebildet. Ihre Schräglage entstand durch den Wunsch, schnell zu schreiben. (Daher noch heute die Bezeichnung Italic für die schräge Form der Druckbuchstaben.) Die schönste Form der Renaissance-Kursiv, die Cancellaresca, findet sich in dem Schreibbuch „La Operina“ (1522) des Schreibmeisters Ludovico Arrighi.

Cancellaresca

Cancellaresca, nach „La Operina“

Die Verbreitung der Druckkunst brachte die Schreiber und Schreibmeister in Not. Hatte man bislang die Druckschrift den schönsten Handschriften nachgebildet, entfernten sich jetzt Druckschrift und Handschrift voneinander. Die Schreiber formten ihre Buchstaben so, dass sie mit herkömmlichen Drucklettern nicht nachgeahmt werden konnten.

Kupferstichalphabet 1743

Kupferstichalphabet 1743

Die Verbindungen der einzelnen Buchstaben und die in der Barockzeit nördlich der Alpen aufkommenden Schnörkel und Girlanden veränderten die Buchstabenformen maßgeblich. Jetzt ließen die Schreibmeister ihre Lehrbücher im Kupferstichverfahren herstellen. Oft waren diese Bücher in Rot gedruckt, und es galt, die Formen genau nachzuziehen. Wer das konnte, schrieb „wie gestochen“, ein Formideal, das bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts angestrebt wurde. Gelehrt wurde also eine Duktusschrift.

Der Zweck prägt die Form
Solange die Handschrift das Speicher- und Kommunikationsmedium der Verwaltungen war, brauchte man Schreiber, die den überindividuellen Duktus schrieben. Mit dem Vordringen der Schreibmaschine nach der Jahrhundertwende wird die Schreibhand von dieser Pflicht entbunden, die Handschrift wird Privatsache. Das neue Konzept der „Ausgangsschrift“, angeregt durch den Kalligraphen Rudolf von Larisch und theoretisch begleitet von dem Pionier der Graphologie Ludwig Klages, erlaubte dem Schreiber eine expressive, persönliche Ausformung der erlernten Grundform. Gelehrt wurden nun Ausgangsschriften, deren Formen vom Schüler später individuell abgewandelt werden sollten.


Persönlichkeitsschrift und Graphologie –
Erlass wider die „Schwabacher Judenletter“

Die in Deutschland als Druck- und Handschrift übliche Gotische bzw. Fraktur wurde am 3. Januar 1941 von den Nationalsozialisten per Erlass verboten. In dem Rundschreiben von Martin Bormann werden die Fraktur und ihre Handschriftvarianten als „Schwabacher Judenlettern“ bezeichnet. Wie es zu dieser fälschlichen Behauptung gekommen ist, lässt sich nicht restlos klären.
Sütterlin

Sütterlin

In jedem Fall jedoch propagierten die Nationalsozialisten ausdrücklich das Konzept der Ausgangsschrift – Persönlichkeitsschrift und wandten sich dabei besonders gegen die Reformschriften des Ludwig Sütterlin. Denn Sütterlins Lateinschrift sowie seine bekannte Frakturschrift waren noch Duktusschriften. Doch von der Persönlichkeitsschrift erhofften sich die Nationalsozialisten Auskunft über den Menschen. Auf Ludwig Klages diffuser Lehre aufbauend, isolierte man nicht nur charakterliche, sondern auch rassische Merkmale aus der Handschrift. Die Graphologie wurde zum probaten Selektionsinstrument. Im Dienste der Nationalsozialisten wuchs dem Graphologen erstmals eine unheilvolle Macht über Menschen zu. Er wurde zum Taxator, der vermeintlich rassisch oder charakterlich Minderwertige aussortierte und sich dabei vor seinen Opfern nicht zu rechtfertigen braucht, da er seine zweifelhafte Kunst, diese pseudowissenschaftliche Kaffeesatzleserei, im Geheimen ausübt.
Ausgangsschrift_1941&Koch

1/2) Offenbacher Schrift von Rudolph Koch
3) Deutsche Normalschrift

Ab 1941 wurde die „Deutsche Normalschrift“ in den Schulen verbindlich.

Kein Lichtblick – Deutsche Ausgangsschriften nach dem 2. Weltkrieg
In der Bundesrepublik entschied man sich übereilt für ein anderes lateinisches Alphabet, das ebenso wie die Deutsche Normalschrift noch von den künstlerischen Verirrungen barocker Schreibmeister und der Spitzfeder geprägt ist. Diese Schulschrift heißt schlicht Lateinische Ausgangsschrift“ (LA), sie wird seit 1953 gelehrt.
LA
In den 80er Jahren kam die „Vereinfachte Ausgangsschrift“ (VA) hinzu. Nach ihrem Wegbereiter hieß sie zunächst „Grünewald Alphabet“. Der Göttinger Grundschullehrer Heinrich Grünewald hatte 1969 methodische Untersuchungen zur Schreibmotorik durchgeführt. Seine 1970 veröffentlichten Befunde zeigen einige grundsätzliche Schwächen der Lateinischen Ausgangsschrift. Grünewald konstatiert umständliche Schlaufen und Wellenlinien sowie eine fehlende Systematik als Hauptursache für die Schwierigkeiten beim Erlernen und die Formverzerrungen bei ausgeschriebenen Handschriften. Zusammen mit dem Frankfurter „Arbeitskreis Grundschule“ entwickelte er darauf die Vereinfachte Ausgangsschrift, die seit 1973 vorliegt. Sie ist der Versuch einer Schulausgangsschrift ohne den barocken Formballast der Lateinischen Ausgangsschrift.
VA
Konzept der Vereinfachten Ausgangsschrift
Eine geringere Zahl der Drehrichtungswechsel und Deckstriche, gleichmäßige Haltepunkte sowie eine starke Annäherung der Großbuchstaben an die Druckschrift sollen das Schreibenlernen erleichtern. Die gesamte Formgebung ist lernpsychologischen Gesichtspunkten unterworfen. Grünewald hoffte auch auf eine größere Formkonstanz bei ausgeschriebenen Handschriften, damit es, anders als bei der Lateinischen Ausgangsschrift, in den Erwachsenenschriften nicht zu regellosen Verschleifungen komme, die die Lesbarkeit herabsetzen.

Die Schwächen der VA
Inzwischen liegen von der VA auch Beispiele ausgeschriebener Handschriften vor. Leider sehen die meisten so aus, dass man sich beinahe wünscht, die Schreiber möchten zu funktionalen Analphabeten retardieren. Woran liegt das?

Offenbar ist der Denkansatz falsch: Die Form der Schrift darf nicht den Möglichkeiten des Kindes angenähert werden, damit es sie rasch und nachhaltig automatisieren kann, die Schule muss das Kind behutsam an eine gute Schrift heranführen, die freie Formentwicklung erlaubt und ästhetisch entwicklungsfähig ist. Denn aus Kindern werden Erwachsene mit ausgeprägter Feinmotorik. Ist das Muskelgedächtnis aber einmal auf die kindgemäßen Formen konditioniert, plagt sich das Kind als Erwachsener mit einer Kinderschrift, an deren Formkonstanz sich allein Heinrich Grünewald und seine Adepten erfreuen mögen. Schließlich hat sich die Form der Schrift immer am Schreibprozess und an den ästhetischen Bestrebungen des erwachsenen Schreibers entwickelt. Wir reduzieren auch nicht unsere Lautsprache auf die Ebene des kindlichen Lallens, damit das Kleinkind sich rascher in seiner Muttersprache heimisch fühlen kann.

Die Fehler der Lateinischen Ausgangsschriften gehen zurück auf Materialbedingungen und schreibmeisterliche Spielereien der Barockzeit. Die VA räumt hiermit nicht auf, sondern ist eine Flickschusterschrift ohne ästhetische Qualität, eine wahre Technokratenleistung von künstlerischen Laien, die voller Fehler steckt. Man betrachte nur die völlig falsche Form des kleinen S und den disfunktionalen Schnörkel bei der Ligatur ss

=> Das kleine S bei Grünewald
Die Grundform des kleinen „s“ entspricht eigentlich dem großen „S“, wobei der obere Bogen aus Platzgründen verkleinert wird. Bei verbundenen Handschriften bekommt der kleine Bogen einen Anstrich. Wenn der Buchstabe mit der Wechselzugfeder geschrieben wird und die Federbreite der Buchstabengröße angepasst ist, bleiben Anstrich und eigentliche Buchstabenform klar unterscheidbar. Grünewald macht aus diesem Anstrich ein festes Formelement und tilgt den oberen Bogen völlig. Sein „s“ ist ein Haken. Der Anschluss an folgende Buchstaben bekommt dagegen eine überflüssige Schleife, wodurch die Form große Ähnlichkeit mit dem großen S der Sütterlinschrift bekommt. Das „s“ bei Grünewald ist eine üble Formverzerrung. Ebenso problematisch sind das „t“ und das „z“.

s

Links: das Beispiel Cancellaresca – Anstrich und Formstrich klar unterscheidbar
Rechts: Vereinfachte Ausgangsschrift – Anstrich wird zum Formstrich, der obere Bogen fehlt

Grünewald klagt über die Lateinische Ausgangsschrift:

„Doch vergleicht man ausgeschriebene Handschriften mit der einstmals gelernten (..) Ausgangsschrift, erkennt man vielfach überhaupt keine Ähnlichkeit zwischen den beiden Schriften. Die Erwachsenenschrift hat ihr Gesicht so sehr gewandelt, dass eine Identität mit der Ausgangsschrift verloren gegangen ist.“ (Grünewald 1981)

Diesen übertriebenen Verschleifungen wäre sinnvoll zu begegnen, indem man in der Vorstellung des Schreibers Klarheit über die Grundform festigt. Wer das „s“ als Garderobenhaken zu schreiben lernt, kann nicht entscheiden, mit welcher Verschleifung er sich unzulässig von der Grundform entfernt. Wer Anstrich und Formstrich nicht unterscheiden kann, verfälscht die Schrift, ohne es zu wollen. Was nutzt dann die von Grünewald versprochene Formkonstanz, wenn sie sich in Elementen etabliert, die gar nicht zum Buchstaben gehören? Was bleibt, ist maschinenmäßiges Schreiben ohne Sinn und Verstand.

Zurück zur Formtreue?

Grünewalds Zielvorstellung von der größeren Formtreue bei der Erwachsenenschrift ist ein kultureller Rückschritt. Wer von einer größeren Konstanz einmal erlernter Schriftformen träumt, wer die Ausdrucksfähigkeit der Schreiber wieder stärker einschränken will, müsste diese erneute Fesselung zumindest rechtfertigen, indem er eine Schrift von ästhetischer Qualität anbietet. Grünewalds Verdienst ist es, auf die Reformbedürftigkeit der Lateinischen Ausgangsschrift nachhaltig hingewiesen zu haben. Die sichtbaren Schwächen der Vereinfachten Ausgangsschrift werten die ebenso schwache Lateinische Ausgangsschrift ungewollt auf. Doch LA oder VA, das ist wirklich Jacke wie Hose. Unter diesem engen Blickwinkel darf die wichtige Diskussion um eine gute Ausgangsschrift nicht geführt werden.

Die nach der Wiedervereinigung als dritte Ausgangsschrift zugelassene Lateinschrift der ehemaligen DDR hat ähnliche Mängel wie die lateinische Ausgangsschrift. Ich kenne sie nicht gut genug, um ausführlich darauf einzugehen.

Handschriften_nach_Cancellaresca
Berechtigter Neid
Das angelsächsische und skandinavische Beispiel

Handgeschriebene Briefe aus angelsächsischen Ländern lassen deutsche Briefpartner vor Neid erblassen. In den USA und England wird überwiegend die moderne Chancery geschrieben. Diese lateinische Kursivschrift basiert auf der Cancellaresca, der klaren Renaissance- Handschrift aus dem berühmten Schreibbuch „La Operina“.

Im Jahr 1922, als deutsche Schulkinder noch die Kurrent schreiben mussten (handschriftliche Varianten der Fraktur) und sich allenfalls an der steifen Reformschrift von Ludwig Sütterlin versuchen durften, erneuerte in England der Kalligraph Alfred Fairbank die Schulausgangsschrift, indem er auf die Urformen der Cancellaresca zurückgriff.

Fairbanks

Fairbanks schöne Schulhandschrift hat inzwischen einige Generationen von Schreibern und Kalligraphen geprägt und begründet nachhaltig die ästhetische Überlegenheit angelsächsischer Handschriften.

Reformen müssen also wieder bei den klaren und bislang unübertroffenen Humanistenschriften anknüpfen. Beispiele aus Skandinavien und den angelsächsischen Ländern zeigen den Weg.

Ausgangsschrift Schweden

Ausgangsschrift Schweden


„Erobern Sie sich ein gute Handschrift zurück!“

Wie viele andere war ich mit meiner Handschrift unzufrieden. Ein Buch über Arbeitstechniken zeigte mir einen Ausweg. „Erobern Sie sich ein gute Handschrift zurück!“, stand dort.

Also besorgte ich mir Schulhefte für Grundschulen und übte zunächst die Vereinfachte Ausgangsschrift. Mit dem Ergebnis war ich nicht froh. Dann fand ich die vorbildliche Isländische Ausgangsschrift von C.S. Briem:

Isländische Ausgangsschrift

Diese Schrift beruht nicht auf einem Oval, sondern auf einem abgerundeten Dreieck. Sie kommt damit meinen eigenen Formvorstellungen entgegen und prägt meine heutige Handschrift. Auch als Erwachsener kann man sich also eine gute Handschrift erobern.
Schreibmalwieder

Update 15.06.2017
Neuerscheinung!

Vom Autor dieses Textes – ein Buch über verschiedene Aspekte der Buchkultur

Das Buch wendet sich an alle, die sich für Sprache, Schrift und Medien interessieren und an Fachpublikum. Es gibt zwei Fassungen:
Als E-Book, Preis 9,99 Euro hier

Als gedrucktes Buch, Preis 14,99 Euro hier und über den lokalen Buchhandel – ISBN: 978-3-74506-330-1 (Book on demand – dauert etwas länger als gewohnt.)

Dieser Beitrag wurde unter Teppichhaus Intern abgelegt und mit , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

29 Kommentare zu Einiges über Handschrift

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.