Kein richtiges Leben im Falschen – Occupy Hannover

Samstag, 22. Oktober 2011, 14 Uhr. Gegenüber dem Hauptbahnhof, wo die #Occupybewegung sich versammeln wollte, ist ein großes Schwein aufgeblasen. Geht es jetzt um aufgeblasene Schweine? Aber das aufgeblasene Schwein gehört Tierschützern, die rein zufällig sich den Versammlungsplatz der Occupybewegung angeeignet haben und für Vegetarismus werben. Auf dem Bürgersteig ist eine Kreidenachricht, #Occupy treffe sich vor der Sparda-Bank. Da sind eine schwarze und eine rote Fahne zu sehen. Drumrum wird heftig diskutiert, denn die Fahnenträger wollen nicht einsehen, dass man ihre Symbole nicht haben will.

Vegetarier, Linke, Anarchisten, Unternehmensberatungen, sie alle wollen sich wie Zaunkönige vom erstarkenden Adler hinauftragen lassen. Das ist, zugegeben, ein gewagtes Bild, was den Adler betrifft. Wer den Demonstrationszug der Occupybewegung durch die sonnige Innenstadt sieht, kommt beileibe nicht auf die Idee von Stärke der Bewegung. Noch gibt es viel mehr Gaffer vor den Läden und Cafés als Demonstranten. Die Zuschauer fühlen sich in ihrer samstäglichen Ruhe gestört, müssen auf den Türschwellen der Läden abwarten.

Bei den Kundgebungen am Kröpke und vor dem Landtag werden noch Phrasen gedroschen, die man woanders schon besser gehört hat. Aber das scheint mir eher die Stärke der Bewegung zu sein. Es geht nicht um intellektuelle Auseinandersetzung, sondern um ein beklemmendes Unbehagen wegen der irrwitzigen Geschehnisse in der Welt. Das will man nicht länger ohnmächtig hinnehmen.

Im Zuge der Revolution von 1848 stürmten und zerstörten aufgebrachte Bürger aus Iserlohn einen optischen Telegraphen, Teil der königlich-preußischen Telegraphenlinie von Berlin bis Aachen und Koblenz. Optische Telegraphen befanden sich auf Türmen und hatten verstellbare Signalblätter. Mit den zappelnden Flügeln wurden Botschaften zu den benachbarten Türmen gesandt, über die Köpfe der Bevölkerung hinweg. Die Bürger sahen die Kommunikation der Herrschenden, konnten sie aber nicht entschlüsseln. Doch als sie darüber nachzudenken begannen, da hatten sie plötzlich vor Augen, wie sie durch geheime Nachrichten regiert wurden.

Heute bleiben die geheimen Absprachen der herrschenden Machtelite fast unsichtbar. Deshalb ist man geneigt, dieses Wissen zu verdrängen. Man braucht nicht einmal den Kopf in den Sand zu stecken. Angenommen an diesem Samstagmittag in den sonnigen Innenstädten, da wäre plötzlich der Himmel voll mit optischen Telegrafen, und es wäre ein Gewusel von Zappeln und Blitzen geheimer Botschaften, von Absprachen unbequemer Maßnahmen gegen das Volk und wie man sie ihm als Verbesserung oder alternativlos verkaufen müsse, wäre dieses miese Gemauschel zu unseren Köpfe einmal sichtbar am Himmel, würde jenes eine Prozent der Bevölkerung, das zur Herrschaftselite zählt, mit seinen Signalen den Himmel verdunkeln, so dass es eisig würde im Schatten, was würden die samstäglichen Bummler dann machen? Würden sie unverdrossen in die Läden gehen und Schuhe kaufen? Nein, sie würden sich beschämt einreihen in den Demonstrationszug.

Man muss nicht alle Zusammenhänge verstehen, um ein Gespür für das Falsche zu bekommen. Die meisten Menschen brauchen nur ihr besseres Ich zu befragen, um zu erfahren, dass in unseren Gesellschaften sich einiges ganz grundsätzlich verändern muss. „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ (Adorno)

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27 Kommentare zu Kein richtiges Leben im Falschen – Occupy Hannover

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