Strickguerilla-Aktivistinnen – Tante Liesels Erbinnen

Die Texanerin Magda Sayeg aus Texas hat angeblich das Urban Knitting erfunden. Aber ich glaube, die erste Strickguerilla-Aktivistin war meine Patentante Liesel. Freilich hat sie nicht den öffentlichen Raum bestrickt, sondern mich. Ich erinnere mich mit Schaudern an einen grünen Pullover, den ich ihr zu Ehren tragen musste, weil sie ihn selbst gestrickt hatte, und er engte mich ein wie eine Wurstpelle, da Tante Liesel nie daran gedacht hat, ich könnte etwa seit dem ersten Pullover, den sie für mich gestrickt hat, gewachsen sein.

Später entwickelte ich eine Wollallergie, das hatte ich davon, und wer wie ich als Kind schon bestrickt wurde, ist für sein Leben gezeichnet. Alle möglichen Frauen verstanden und verstehen bis heute, mich zu bestricken. Sie verwenden mit Rücksicht auf meine Wollallergie unsichtbares Garn, das aber so reißfest ist wie der magische Faden Gleipnir, mit dem der Fenriswolf gefesselt wurde.

Ähem, vom Thema abgekommen. Es geht um Urban Knitting. Auf dem Höhepunkt der Emanzipationsbewegung hat so ziemlich jede Frau gestrickt, die etwas auf sich hielt. Frauen saßen nicht nur strickend in den Frauenteestuben, in denen kein Mann geduldet war, selbst nicht männliche Säuglinge im Kinderwagen. Sie strickten in den Seminaren, saßen da in ihr Strickzeug versunken, dass man dachte, die kriegen nichts mit, aber ab und an hob eine den Kopf und gab ein harsches Statement gegen Frauendiskriminierung durch die männliche Sprache ab. Geblieben sind das scheußliche Binnen-I und noch scheußlichere Doppelformen wie Verwaltungsinspektoranwärter und Verwaltungsinspektoranwärterinnen. Alles nebenher herbeigestrickt.


Als das
erreicht war Mitte der 80er Jahre, hörte die Strickerei auf. Erst im Jahre 2005 erfand die Texanerin Magda Sayeg das Stricken erneut, und weil vermutlich kein unschuldiges Patenkind in der Nähe war, bestrickte sie Bäume und andere Objekte im öffentlichen Raum. Prompt finden auch deutsche Frauen das Stricken wieder chic.

In Hannover bestrickten Strickguerillia-Aktivistinnen kürzlich die berühmte Kröpke-Uhr im Stadtzentrum, und jetzt verhüllen Strickwaren die hübschen Betonpoller vor dem Hauptgebäude der Leibniz-Universität. Da sehen sie fast aus wie kondomisierte Klopapierrollen auf den Hutablagen der Autos. Das hat nichts mit Penisneid zu tun. Strickguerilla-Aktivistinnen haben ein gutes Herz. Sie verschönern die Welt. Erst haben sie Mützchen für ihre Puppen gehäkelt, jetzt kriegen die Poller und auch Herbstbäume Mäntelchen, damit sie in kalten Nächten nicht frieren. Und natürlich sind Pollerkondome und Baumstammmäntelchen nicht knallgrün, sondern bunt. Meine Tante Liesel würde staunen, wenn sie sehen würde, wie ihre Handarbeit sich weiterentwickelt hat. Aber vermutlich würde sie die Pollermützen zwei Nummern zu eng stricken.

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