Demokratie in Griechenland zwischen Ende und Wiedergeburt

„Diejenigen, die uns schuldeten, nahmen uns auch noch den Ochsen“ (griechisches Sprichwort)

„Was ist der Unterschied zwischen dem Griechenland zur Zeit der Perserkriege und heute? Damals wurden 300 geopfert, um den Rest des Landes zu retten. Heute verhält es sich umgekehrt“ (Slogan auf dem Platz der Verfassung; das griechische Parlament hat 300 Abgeordnete)

„Arme, esst euch nicht gegenseitig auf, esst die Reichen, sie sind besser gemästet“ (Graffito in Athen)

Polizeischutz für das Parlament während einer Demonstration in Athen – Foto: Wikimedia

Am 6. Dezember 2008 endete die Metapolitevsi, die politische und soziale Ordnung in Griechenland, die seit dem dem Sturz der Obristen im Jahre 1974 galt. Mit den tödlichen Schüssen auf den 16jährigen Schüler Alexandros Grigoropoulos löste der Polizist Korkoneas eine Revolte aus, die bis in den Januar 2009 hineinreichte und der alten Ordnung die Sterbeurkunde ausstellte.  Der politische, soziale und kulturelle Bankrott der griechischen Gesellschaft wurde für jeden, der sich nicht der Realität verweigerte, in all seinen Dimensionen sichtbar. Die Geburt der neuen Ordnung, deren Durchsetzung noch ungewiss ist, lässt sich ebenso genau datieren, und zwar auf den 25. Mai 2011, als Hunderttausende auf den zentralen Plätzen der griechischen Städte zusammenströmten und forderten, die gesamte politische Klassen solle verschwinden.

Die Eskalation der „Finanzkrise“

Die wichtigsten Ereignisse, die zwischen diesen beiden Daten liegen, sind schnell umrissen:  Die politischen und sozialen Eliten wollten zunächst nicht wahrhaben, dass ihr bisheriges Entwicklungsmodell, als „Modernisierung“ in ganz Europa gefeiert, gescheitert war. Mit polizeilicher und parastaatlicher Gewalt, Diffamierungen, medial inszenierter Terrorhysterie und rassistischen Kampagnen versuchten sie, das Feuer auszutreten, das im Dezember 2008 offen ausgebrochen war. Ihr Offenbarungseid erfolgte dennoch mit zwingender Notwendigkeit, als infolge der Bankenrettung die staatliche Neuverschuldung rasant anstieg und die ohnehin hohe Staatsverschuldung anschwellen ließ. Die ehemals sozialistische PASOK mit Giorgos Papandreou an der Spitze konnte im Herbst 2009 mit dem zwar zutreffenden, aber irreführenden Versprechen „Geld ist vorhanden“ die Parlamentswahlen gewinnen; anschließend verkündete Papandreou mit staatstragender Mine vor dem anmutenden Panorama der Insel Kastellorizo den drohenden Staatsbankrott. Innerhalb kürzester Zeit konnte jeder Grieche lernen, was unter „spreads“ zu verstehen ist und auf welchem Wege man sich bereichern kann, wenn man nur über ausreichend finanzielle Mittel verfügt. Die lohnabhängige Mehrheit der Bevölkerung war jedoch nicht zu überzeugen, dass diese Pleite ihre eigene sei. Die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung gewann an Schärfe und Dynamik und durch die Staatsschuldenkrise eine unmittelbar internationale Dimension.

Im Mai 2010 unterzeichnete die Regierung Papandreou, getrieben von den Ereignissen und unter massivem Druck der EU, einen Kreditvertrag über 80 Mrd. € mit den Ländern der Eurozone (30 Mrd. steuerte zudem der IWF bei), zu dessen Bestandteilen das berüchtigte „Mnimonio“ (Memorandum) gehört.  In der neueren Geschichte dürfte eine derartig widerstandslose Kapitulation eines Staates ohne Beispiel sein.  Der Verfassungsrechtler Giorgos Kasimatis, einer der Autoren der griechischen Verfassung, spricht in diesen Zusammenhang von der „Auflösung“ der Verfassung und der „Abtretung von Souveränitätsrechten“.  Mit dem Vertrag wurde der griechischen Regierung en detail vorgeschrieben, in welchem Quartal welche Maßnahme zu treffen ist; dazu gehörte neben einer Erhöhung von Verbrauchssteuern, der Mehrwertsteuer sowie der Lohn- und Einkommenssteuer die Senkung der Löhne und Gehälter im Öffentlichen Dienst, Rentenkürzungen, die Liberalisierung des Transportsektors und der freien Berufe, eine Zusammenlegung von Kommunen und die Stilllegung von Bahnlinien.  Selbst Eingriffe in die Tarifautonomie mit dem Ziel von Lohnsenkungen im Bereich der privaten Wirtschaft waren vorgesehen. Dass die Frage, ob der Vertrag mit einfacher Mehrheit beschlossen werden kann, äußerst umstritten war, ist mittlerweile ebenso eine Randnotiz der Geschichte wie die Umstände, mit denen er durch das Parlament gepeitscht wurde – so lag beispielsweise der Vertragstext zum Zeitpunkt der Verabschiedung nicht einmal in griechischer Sprache vor.

Der soziale Widerstand gegen die „Diktatur der Troika“ aus EZB, EU-Kommission und IWF hielt über das ganze Jahr 2010 an und fand seine Höhepunkte in zahlreichen Generalstreiks, blieb jedoch im Kern auf die organisierte Linke und die Gewerkschaften beschränkt: Die Kommunistische Partei (KKE) sowie die Linkskoalition SYRIZA samt ihrem gewerkschaftlichen Anhang, die ebenfalls in den gewerkschaftlichen Basisverbänden  fest verankerte außerparlamentarische Linke sowie die zahlreichen anarchistischen Gruppierungen. Griffen die Proteste über das organisierte Spektrum hinaus auf breitere Bevölkerungskreise über, so blieben sie sektoral oder lokal begrenzt, wie etwa bei den Mobilisierungen der Lastwagenfahrer oder später der Taxifahrer.

Zwei Aspekte sind in diesem Zusammenhang hervorzuheben: Zum einem gelang es der von der außerparlamentarischen Linken initiierten Koordination der gewerkschaftlichen Basisverbände, dem Richtungsverband der Regierungspartei, PASKE, das Wasser abzugraben und ihre eigene Massenbasis erheblich zu verbreitern. Die Demonstrationsblocks der Basiskoordination übertrafen die der Dachverbände ab Ende 2010 um ein vielfaches. Die Losung „Wir schulden nichts, wir verkaufen nichts, wir zahlen nichts“ verbreitete sich; es entwickelten sich zahlreiche Gruppen, die den Boykott der Straßenmaut oder massenhaftes Schwarzfahren organisierten.

Zum anderen entfalteten zwei Konflikte eine weit über sich hinausweisende Dynamik: Die lokalen Proteste gegen eine Mülldeponie in Keratea, mit der das seit Jahren schwelende Müllproblem in Attika behoben werden soll. Hier gelang es der lokalen Bevölkerung mit Unterstützung von linken und anarchistischen Gruppierungen aus Athen, trotz ausufernder Polizeigewalt den Baubeginn zu verhindern. Eine vollkommen anders gelagerte Konfrontation entwickelte sich aus dem Hungerstreik von rund 300 Flüchtlingen aus Nordafrika in Athen und Saloniki, der Ende Januar 2011 begann und bis März 2011 andauerte. Trotz Desinformation durch die Regierung, massiver medialer Diffamierung und polizeilicher Repression gelang es den von einer breiten Solidaritätsbewegung unterstützen MigrantenInnen, die Bedingungen erheblich zu verbessern, die zur Erlangung eines legalen Aufenthaltsstatus’ notwendig sind. Angesichts der äußerst prekären Lage der illegalen Einwanderer in Griechenland und vor dem Hintergrund der Revolten in Tunesien und Ägypten kann die Bedeutung dieses erfolgreichen Kampfes nicht hoch genug veranschlagt werden. Es war der Sieg des Rechts, Mensch sein zu dürfen, gegen eine moralisch vollkommen korrumpierte politische Klasse.

Illegitime Schulden
Auf ideeller Ebene gelang es der politischen und akademischen Linken – Ausgangspunkt war eine Veranstaltung der Initiative „Wirtschaftswissenschaftler gegen den Internationalen Währungsfond“ um den Ökonomen Kostas Lapavitsas – , mit internationaler Unterstützung  ein gegenhegemoniales Projekt zu initiieren: Sie forderte, die Staatsschulden von einer unabhängigen, international besetzten Kommission auf ihre Legitimität hin untersuchen zu lassen. Diese Forderung mobilisierte breite Kreise auf Basis eines konkrete Ansatzpunkte aufzeigenden Programms. Im Mittelpunkt dieser Initiative steht das Konzept der „illegitimen Schulden“. Dabei handelt es sich u.a. um solche Schulden, die staatliche Funktionsträger im Zusammenhang mit Formen der Vorteilsnahme zu Lasten der Bevölkerung aufgenommen haben. Als Vorbild der Initiative dient insbesondere Ecuador, das 2008 nach einem Schulden-Audit 70 Prozent der Staatsschulden zu illegitimen Schulden erklärt und nicht zurückgezahlt hat. Zu diesem Thema wurde von den Dokumentarfilmern Katerina Kitidi und Aris Chatzistefanou der Film „Debtocracy“ gedreht, finanziert durch private Spenden von Einzelpersonen, politische Organisationen und Gewerkschaften. Die Dokumentation wurde im Internet mit großem Erfolg verbreitet.

Die Art, wie die griechischen Staatsschulden produziert wurde, verlieh dieser Initiative ihre Brisanz. Das in den europäischen Medien lange Jahre hochgelobte griechische Wirtschaftswachstum fußte – vergleichbar mit der Phase vor dem Ersten Weltkrieg, als die Eisenbahn und der Kanal von Korinth gebaut wurden – auf den „Megala Erga“, den großen Infrastrukturprojekten. In Griechenland sind in den letzten Jahren von der EU geförderte gigantische Bauten ins Werk gesetzt worden, an denen der griechische Staat in unterschiedlichem finanziellem Umfang beteiligt war. Dazu gehören der Athener Flughafen „Eleftherios Venizelos“, die Attische Ringstraße, die Athener U-Bahn, die Vorortbahn in Athen, der Neubau der Straßenbahn, die Bauten für die Olympiade 2004, zahlreiche Autobahnen, darunter die Ost-West-Verbindung „Egnatia Odos“ vom westgriechischen Igoumenitsa zur türkischen Grenze, die Brücke Rio-Antirio, welche die Peleponnes mit dem westgriechischen Festland verbindet, sowie weitere Straßenbauprojekte. Vor allem im Falle der Siemens-AG, die an zahlreichen Projekten beteiligt war, ist es dabei zu Bestechungen in großem Umfang gekommen. Siemens hat Presseberichten zufolge die beiden staatstragenden Parteien mit Summen zwischen 100 und 150 Mio. € geschmiert. Auch wenn der anhängige parlamentarische Untersuchungsausschuss und die Ermittlungen der Justiz kaum dazu führen werden, diese Vorgänge vollständig auszuleuchten – im Bewußtsein der Bevölkerung gilt der Fall Siemens als Sinnbild für eine korrupte politische Elite, die Geschäfte zu Lasten der Bevölkerung tätigt.

Ähnlich verhält es sich mit dem Rüstungshaushalt, der sich seit den 1980er Jahren auf einem exorbitant hohen Niveau von vier Prozent des BIP, das entspricht etwa zehn Mrd. € pro Jahr, bewegte.  Beschafft wurden unter anderem Fregatten französischer Rüstungskonzerne sowie U-Boote und Panzer aus Deutschland. Die deutschen Rüstungsexporte haben zwischen 2004 und 2008 um 70 Prozent zugenommen, wobei der Export innerhalb Europas um 123 Prozent anstieg. Hauptimporteure waren Griechenland und die Türkei, die zusammen rund ein Drittel der deutschen Rüstungsexporte abnahmen. Die damit einhergehende Korruption – in der Regel fanden Kreditzusagen von Banken in enger Abstimmung mit den beteiligten Rüstungskonzernen statt – ist, insbesondere was die Rolle des ehemaligen Verteidigungsminister Akis Tsochatsopoulos betrifft, mittlerweile aktenkundig. Eine parlamentarische und juristische Untersuchung ist anhängig. Nach Aussagen von Daniel Cohn-Bendit im Europaparlament haben die französische und die deutsche Regierung gleichwohl die finanziellen Zusagen der EU davon abhängig gemacht, dass die griechische Regierung die laufenden Aufträge nicht storniert.

Hinzu kam die ebenfalls mit einer Korruption jeder Beschreibung spottenden Ausmaßes einhergehende Bereicherung der griechischen Oberschicht. Zwischen 2000 und Ende 2009 erhöhten sich die Aktiva der griechischen Banken von 230 auf 580 Mrd. €, mithin ein Anstieg um 150 Prozent.  30.000 griechische Familien verfügen über Bankguthaben in Höhe von 50 Mrd. €, Griechen haben im Ausland 40 Mrd. € angelegt. Die an der Athener Börse notierten Unternehmen haben jährlich einen Reingewinn von über 10 Mrd. € gemacht, griechische Unternehmen haben etwa 20 Mrd. € außerhalb des Landes, vor allem auf dem Balkan, investiert.  Diese Vermögen haben in einer weitgehenden Steuerfreiheit der griechischen Oberschicht sowie der Senkung der Steuern für private Unternehmensgewinne ihre Ursache. So wurde, ganz dem neoliberalen Leitbild entsprechend, 2007 die Unternehmensbesteuerung von 35 auf 25 Prozent gesenkt, und Reedereien sind heute praktisch steuerfrei. Die andere Seite dieser systematisch betriebenen Bereicherung ist die einer Senkung der Einkommen aus abhängiger Arbeit und aus Sozialtransfers sowie die zunehmende Verschuldung der öffentlichen Hand.

Staatsunternehmen zu Schnäppchenpreisen

Die Forderung nach einer Untersuchung der griechischen Staatsschulden unabhängig vom Parlament und der Justiz birgt also eine erhebliche Sprengkraft in sich, zielt sie doch auf den Zusammenhang von internationaler Kreditvergabe bzw. Kapitalexport, öffentlichen Ausgaben sowie der Korruption der politischen Klasse zu Lasten der breiten Mehrheit der Bevölkerung. Dies umso mehr, als mit dem Kreditvertrag vom 8. Mai 2010 eine Lösung der Schuldenkrise in die Wege geleitet wurde, die eine nahtlose Fortsetzung und Radikalisierung der bisherigen Wirtschaftspolitik bedeutet. Selbst die konservative „Kathimerini“ kritisierte, die Regierung habe sich „bedingungslos den Gläubigern ergeben“ und betreibe den Ausverkauf des Landes.  Dafür gibt es neben politischen auch strukturelle Gründe: Die beiden großen Parteien in Griechenland leben selbst seit Jahren über ihre Verhältnisse. Obwohl die staatliche Parteienfinanzierung schon bis 2016 abgerufen worden ist, finanziert sich die regierende PASOK zu gut drei Fünfteln aus Bankkrediten.
Die „Hilfskredite“ an den griechischen Staat sind zudem allemal ein gutes Geschäft. Allein zwischen 2011 und 2013 zahlt Griechenland 92 Mrd. € an seine Gläubiger für fällige Anleihen, das sind 85 Prozent des Rettungspakets. Hinzu kommen Zinsen in Höhe von rund 16 Mrd. € pro Jahr. Die Struktur der Gläubiger bedingt dabei den Charakter der als „Giechenlandrettung“ euphemisierten Politik. Es handelt sich vor allem um Banken, Versicherungen und andere institutionelle Anleger. An der Spitze stehen die griechischen Banken mit über 45 Mrd. €, gefolgt von deutschen  und französischen Kreditinstituten mit rund 23 Mrd. bzw. 15 Mrd. €.  Der Begriff „griechische Banken“ ist in diesem Zusammenhang allerdings differenzierungsbedürftig: So gehört die Geniki Trapeza zu 54 Prozent der Societe General, und die Emporiki ist eine Tochtergesellschaft der Credit Agricole.  Zudem agieren die großen griechischen Reedereien, die Teile des griechischen Bankensystems kontrollieren, traditionell international und haben ihren Sitz im Ausland. Exemplarisch dafür ist die Latsis-Dynastie, deren Vermögen auf 9,1 US $ geschätzt wird. Die EFG-Holding-Companie von Spiros Latsis, an der die Deutsche Bank mit zehn Prozent beteiligt ist, hat ihren Sitz in Luxemburg und hält mit ihrer Tochter EFG Eurobank Ergasias 7,5 Mrd. € an griechischen Anleihen. Latsis, ein Studienfreund von EU-Kommissionspräsident Manuel Baroso, hat über diese Bank die EU-Strukturmittel für Griechenland abgewickelt. Latsis ist zudem im Privatflugzeug-Verleih tätig und hält 40 Prozent der Anteile an den mehrheitlich staatlichen Raffinerien (ELPE). Mit der Gesellschaft Lamda ist Latsis auch im hochprofitablen und – verwiesen sei hier auf die jährlich wiederkehrende, durch den Gesetzgeber indirekt beförderte Brandstiftung – ökologisch besonders desaströsen Immobiliensektor tätig. Es ist in diesem Zusammenhang von besonderer Ironie, dass neben Karl Theodor zu Gutenberg der griechische Ministerpräsident Giorgos Papandreou am 3. Oktober 2010 mit dem offiziösen Einheitspreis der Bundesrepublik, der „Quadriga“, ausgezeichnet worden ist. Die Laudatio hielt Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann.

Das „Rettungspaket“ erhöhte den Druck auf die griechische Regierung, Unternehmen im Staatsbesitz zu privatisieren. Es ist trotz verbreiteter Darstellung nicht so, dass die Staatskonzerne unprofitabel wirtschaften, sieht man einmal von der defizitären Staatsbahn OSE ab.  So konnte sich die deutsche Telekom bereits ein weiteres Aktienpaket der Telekom Hellas zu einem Schnäppchenpreis sichern. Die Privatisierung dieser Staatsbetriebe hat weitreichende Folgen; sollte etwa die Landwirtschaftsbank privatisiert werden, könnten aufgrund der Verschuldung vieler Kleinbauern rund 50 Prozent des Landbesitzes den Besitzer wechseln. Ein anarchistischer Slogan bringt diesen Zusammenhang treffend zum Ausdruck: „Jetzt, wo die Unterhose weg ist, gehen sie uns an die Eier“.
Der Vorteil des „Rettungspakets“ bestand aus Sicht der Regierung vor allem im Zeitgewinn, der den Gläubigern ermöglichte, griechische Staatsanleihen abzustoßen und zum IWF und zur Europäischen Zentralbank umzuschichten; die EZB ist dadurch innerhalb eines Jahres zur europäischen „Bad Bank“ geworden. Das „Rettungspaket“ hatte aber auch aus Sicht seiner Protagonisten Nachteile: Faktisch wurde durch das Programm der Troika die griechische Ökonomie in die Rezession getrieben und die Schuldenkrise damit verschärft.

Die ohnehin angespannte soziale Lage hingegen spitzte sich infolge der Schock-Therapie der Troika das ganze Jahr 2010 über weiter zu: Die Arbeitslosenzahlen explodierten, Zehntausende verließen die städtischen Ballungszentren und zogen in die günstigere Peripherie oder wanderten aus; die Selbstmordrate verdoppelte sich, angesehen vom Verkauf von Psychopharmaka brach der Konsum auf breiter Front ein. Innerhalb kürzester Zeit verringerte sich der Lebensstandard auf das Niveau der frühen 1960er Jahre.

Der Auftritt der Empörten
Es bedurfte nur eines Funkens, um eine erneute soziale Explosion auszulösen; den Auftakt bildete ein Generalstreik Mitte Mai 2011, der mit äußerster Härte von den Sondereinheiten der Polizei (MAT) angegriffen wurde. „Die Polizei wird mehr und mehr zur ersten Gefahr für die innere Sicherheit“, kommentierte die linksliberale „Eleftherotypia“ eine brutale Attacke auf die Streikdemonstration, bei der ein Demonstrant lebensgefährlich am Kopf verletzt wurde.  Ärzte, die sich vor Ort befanden, äußerten drastische Kritik am Polizeieinsatz. Eine Protestdemonstration am folgenden Tag sah sich erneut mit einem brutalen Polizeieinsatz konfrontiert.  Nur zwei Tage später löste ein von Migranten verübter Raubüberfall, bei dem ein Familienvater erstochen wurde, von Teilen der Medien geschürte rassistische Pogrome im Athener Stadtzentrum aus, bei denen wie durch ein Wunder niemand zu Tode kam. Die Polizei blieb dabei untätig.  Schließlich entluden sich die sozialen Spannungen in einer seit Beginn der Krise nicht dagewesenen Massenbewegung.


Protest im Mai 2010 – Foto: Wikimedia

Der Legende nach war der Auslöser der Slogan der spanischen Indignados, die dazu aufforderten, still zu sein, um die Griechen nicht aufzuwecken. Innerhalb kürzester Zeit wurde eine Reihe von Facebook-Steiten etabliert, u.a. die Seite „aganaktismenoi sto syntagma“ (Empörte auf dem Platz der Verfassung). Am 25. Mai 2011 versammelten sich hunderttausende Menschen auf den zentralen Plätzen aller größeren Städte Griechenlands, um gegen die Politik der Troika und der griechischen Regierung zu protestieren. Allein in Athen versammelten sich nach einer außerordentlich kurzen Mobilisierungszeit von weniger als zwei Tagen etwa 40.000 Menschen mit dem Slogan „Wir gehen erst, wenn ihr weg seid!“ Am fünften Tag ununterbrochener Proteste nahmen im Athener Stadtzentrum mehrere hunderttausend Menschen an zwei miteinander korrespondierenden Kundgebungen teil, nachdem Mikis Theodorakis und die von ihm gegründete Organisation „Spitha“ (Funke) zu einer Manifestation vor der Athener Universität und zum Widerstand gegen die „Diktatur der Troika“ aufgerufen hatte.  Während sich die Jüngeren schwerpunktmäßig auf dem Platz vor dem Parlament, Syntagma, versammelten, fanden sich die Älteren einige hundert Meter entfernt in der Panepistimiou-Straße ein. Diese parallelen Kundgebungen verweisen auf die generationellen Unterschiede: Während die unter 40jährigen den dynamischen Kern der Bewegung ausmachen, gruppieren sich viele ältere um Protagonisten wie Theodorakis, der in der Tradition des überlieferten, national konnotierten Antiimperialismus steht; es waren überwiegend die Älteren, die weißblaue Fahnen mitbrachten und somit einem Teil der Bewegung das Gepräge gaben.

Charakteristisch für beide Mobilisierungen war, dass es sich um die „unpolitischen“ Teile der Bevölkerung handelte, die sich bis dato nicht an Protesten beteiligt hatten. Die ersten Kundgebungen auf dem Syntagma richteten sich gegen das gesamte politische Establishment und grenzten sich explizit gegen die politischen Parteien – auch die der parlamentarischen Linken – und die Gewerkschaften ab. Exemplarisch dafür ist der facebook-Kommentar eines 40jährigen Freiberuflers: „Ich habe es bisher geschafft, mich von Parteien, Religionen und Gruppen fernzuhalten, nicht aus Gleichgültigkeit, sondern aus Überzeugung. Dies ist vielleicht die einzige Bewegung, bei der ich das Bedürfnis fühle, teilzunehmen. Ich hoffe, mich täuscht nicht der Eindruck, dass diese Bewegung sich von all denjenigen fernhalten wird, die uns bis hierher gebracht haben.“ Partei- oder Gewerkschaftsfahnen wurden ebenso wenig geduldet wie parteipolitische Agitation. Die Distanzierung von den Gewerkschaften war jedoch nur vorläufig, denn sie diente vor allem der Abgrenzung von einer zeitgleichen Demonstration der Gewerkschaft des staatlichen Stromversorgers die. Bereits kurze Zeit später wurden die Gewerkschaftsverbände dazu aufgefordert, ihre Demonstrationen am Syntagma enden zu lassen. Die „Unpolitischen“ entfalteten sehr schnell ihren politischen Charakter, wobei die Reaktion des politischen Establishments und der Medien ungewollt, aber umso wirksamer, Geburtshilfe leistete: Zunächst wurde versucht, die Bewegung zu ignorieren. Als das nicht mehr möglich war, wurden in vielen Medien diffamierende Verzerrungen und Verdrehungen verbreitet;  ein zentrales, im Kern freilich zutreffendes Argument dabei lautete, die aganaktismenoi würden über kein alternatives Programm verfügen.  Schließlich erfolgten eine massive Repression durch die Polizei sowie parastaatliche Schlägertruppen aus dem neofaschistischen Milieu. All denjenigen, die sich bisher nicht sonderlich für das politische Geschehen interessiert hatten, wurde im Schnelldurchlauf vor Augen geführt, dass der anarchistische Slogan „Bullen, Fernsehen, Neonazis – all das Gesindel arbeitet zusammen“ durchaus auf verallgemeinerbaren Erfahrungen beruht.

Ein Laboratorium der Selbstorganisation

Die Protestbewegung bildete, das zeigten die Einträge auf den Facebook-Seiten deutlich, das gesamte politisch-kulturelle Spektrum der griechischen Gesellschaft ab.  Auf dem Syntagma polarisierte sich dieses Spektrum in eine breite, linksorientierte Mehrheit und eine rechtsgerichtete Minderheit.  Deren Versuche, mit nationalistischer, rassistischer und antisemitischer Agitation der Bewegung ihren Stempel aufzuprägen, scheiterten schon im Ansatz; alle Aufrufe, griechische Fahnen mitzubringen oder gar das facebook-Foto durch die „Weißblaue“ zu ersetzen, hatten keine erkennbare Auswirkung. Umso wirkungsvoller entfalteten sich Ideen, die in der libertären und anarchistischen Gedankenwelt ihre Wurzeln haben.  Mit der Besetzung des Syntagma entwickelten sich Selbstorganisationsprozesse, die sich an basis- bzw. direktdemokratischen Vorstellungen orientierten. Die Website der „Empörten“ wurde daher sehr schnell in „Direkte Demokratie jetzt!“  umbenannt. Als zentrales Entscheidungsgremium wurden die abendlichen Volksversammlungen  etabliert, denen thematisch arbeitende Gruppen zuarbeiten. In zahlreichen Veranstaltungen wurden ökonomische, soziale, staatsrechtliche und ökologische Fragen diskutiert. Allerdings erfolgte eine scharfe Abgrenzung gegen diejenigen anarchistischen Gruppen, die ein offensives Vorgehen gegen die Staatsorgane für sinnvoll und legitim betrachten. Damit wurde der beliebten Taktik der Polizei das Wasser abgegraben, mit gezielten Provokationen Ausschreitungen hervorzurufen und damit das eigene gewaltsame Vorgehen zu legitimieren.

Innerhalb kürzester Zeit setzte sich eine politische Agenda durch, deren Eckpunkte sich auf der Höhe der Konfrontationslinie bewegten: Verhinderung des „Mesoprothesmo“ – der sogenannten mittelfristigen Haushaltsplanung, die das „Memorandum“ ablösen soll  –  Umkreisung des Parlaments am Tag der Abstimmung und Aufforderung zum Generalstreik.  Die Versammlung der Arbeiter und Arbeitslosen forderte zudem alle Gewerkschafter auf, die Besetzung der Betriebe vorzubereiten, denen die Schließung droht. Der Charakter der Forderungen wird deutlich, wenn man berücksichtigt, dass der Vorschlag, Neuwahlen sowie eine Volksabstimmung zu fordern ebenso abgelehnt wurde wie die Idee, eine eigene Partei zu gründen. Faktisch lief diese Programmatik auf den Sturz der Regierung und die Einstellungen aller Zahlungen an die Gläubiger hinaus.

Erstmalig gab es – und das über vier Wochen bis Mitte Juni – keine gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Ohne Zweifel wäre ohne die Beispiele des Tarhir-Platzes und des Puerta del Sol dieses Wunder von Athen nicht möglich gewesen.  Stattdessen entwickelten die Plätze der griechischen Städte sich zu gesellschaftlichen Laboratorien der Selbstorganisation, der Selbstaufklärung und des politischen Dialogs.  Innerhalb kürzester Zeit wurde die hierfür nötige Infrastruktur geschaffen, wobei Lebensmittel, Zelte, Computer und sonstige Materialien unentgeltlich herangeschafft wurden. Eine derartige Freisetzung sozialer Kreativität hat Griechenland zuletzt 1973 bei der Revolte gegen die Obristen erlebt. Und in Slogans wurde immer wieder auf diesen historischen Zusammenhang hingewiesen.

Von der Regierungskrise …

Alle politischen Kräfte waren über diese Entwicklung sichtlich überrascht und zunächst wie paralysiert. Die außerparlamentarische Linke, Teile der SYRIZA und anarchistische Gruppen reagierten als erste und begannen nach wenigen Tagen, für die Proteste zu mobilisieren, nachdem es zunächst Abwehrreflexe wegen ihres scheinbar unpolitischen Charakters gegeben hatte. Charakteristisch dafür ist die Diskussion auf Indymedia Athens, bei der sich ein Aktivist am 26. Mai 2011 wie folgt zu Wort meldete: „Der Dezember [2008, G.K.] war der Dezember, und jetzt haben wir eine andere Situation. Wir müssen uns darauf einstellen, Genossinnen und Genossen.“  Die anarchistischen Aktivisten hielten sich ebenso wie die der marxistischen Linken an die durch die Bewegung selbst vorgegebenen Regeln und nahmen nicht als Vertreter einer Organisation, sondern als Personen teil. Für die Aktivisten der gewerkschaftlichen Basisverbände bot sich die Möglichkeit, die angesichts hoher Arbeitslosigkeit engen Grenzen sektoraler Auseinandersetzungen zu überwinden. Damit reproduziert sich ein Phänomen, das sich in der Geschichte der griechischen Arbeiterbewegung immer wieder findet: Da die ökonomischen Druckmittel eingeschränkt sind, schlagen Streiks schnell in offene politische Auseinandersetzungen um und bilden quasi den Ersatz für die begrenzte sozial-ökonomische Durchschlagskraft.

Die KKE hielt sich merklich zurück, fand aber keinen Grund, sich demonstrativ zu distanzieren. In ihrem Zentralorgan „Rizospastis“ (Der Radikale) hieß es: „Das Spontane entwickelt sich, weil es die bewußte Bewegung gibt“ [gemeint ist die Arbeiterbewegung mit ihrer politischen Führung, der KKE, G.K.]. Die KKE habe ihren Teil dazu beigetragen, diese Situation entstehen zu lassen.  Die Behauptung der Generalsekretärin der KKE, die aganaktismenoi bedürften der politischen Führung, kommentierte ein Aktivist auf facebook mit den Worten: „Die politische Führung, Frau Papariga, hat Griechenland erst in die gegenwärtige Situation gebracht“. Die KKE versuchte im Folgenden, ihren Kurs der Selbstisolierung fortzusetzen und hielt ihre Kundgebungen vorwiegend auf dem Omonia-Platz ab, wie eine Karikatur von Ioannis Ioannou in To Ethnos treffend auf den Punkt brachte: Dort fragt ein Kundgebungsteilnehmer: „Genossin Aleka [Papariga, Vorsitzende der KKE, G.K.], wenn wir alle Pleite gehen, gehen wir dann auch gemeinsam Pleite?“ – „Nein, nicht gemeinsam, wir [gehen] auf dem Omonia-Platz [in die Pleite]“.  Schließlich sah sich die KKE gezwungen, mit ihren Demonstrationen auch zum Syntagma zu ziehen.

Die regierende PASOK versuchte, auf Zeit zu spielen und verschob die Abstimmung über die Verlängerung des „mesoprothesmo“ vom 15. auf den 28. Juni. Die Bewegung flaute jedoch nicht ab, sondern nahm an Intensität noch zu. Nach gut drei Wochen ununterbrochener Proteste, die sich in den Großstädten auf zahlreiche Stadtteile ausdehnten, war die regierende PASOK Mitte Juni am Ende: Ministerpräsident Papandreou bot seinen Rücktritt an, die konservative Opposition war unter den Bedingungen, dass das Abkommen mit der Troika neu verhandelt wird, Papandreou abtritt und Neuwahlen ausgeschrieben werden, bereit, in die Regierung einzutreten. Einen Zwerg umzustürzen ist jedoch unmöglich, wenn zwei Riesen hinter ihm stehen: Nach Intervention der französischen und der deutschen Regierung trat Papandreou von seinem Rücktritt zurück.  Parallel zu diesen dramatischen Entwicklungen versuchte die griechische Regierung, die Protestbewegung zu zerschlagen. Hand in Hand gingen Einheiten der MAT und parastaatliche Schlägertrupps gegen die Besetzer des Syntagma-Platzes vor. Nicht einmal die Medien konnten diesen Zusammenhang verschweigen; auf griechischen Sendern wurde ein Video gezeigt, in dem zu sehen ist, wie Schlägerbanden unter Polizeischutz Knüppel und Eisenstangen durch den Nationalgarten heranschaffen.  Selbst ein Filmbeitrag der ARD thematisierte die Kooperation zwischen Polizei und faschistischen Schlägern.  Nach beispiellosen Straßenkämpfen gelang es der Bewegung jedoch, den Platz erneut zu besetzen; kollektiv wurde der Syntagma von den von der Polizei verschossenen chemischen Substanzen gereinigt und die Infrastruktur wieder aufgebaut.

Auch die daraufhin hektisch anberaumte Regierungsumbildung, mit der Papandreou seine innerparteilichen Konkurrenten in die Regierung einband, verschaffte der Regierung nur für kurze Zeit Luft. Unter dem anhaltenden Druck der Plätze konnten die zentrifugalen Tendenzen in der Parlamentsfraktion der PASOK nur mit Versprechungen und Erpressungen mühevoll unterdrückt werden. Vor dem Hintergrund seiner Weigerung, ohne Bedingungen in eine Regierung der nationalen Einheit einzutreten, sah sich der Vorsitzende der Oppositionellen Nea Dimokratia, Antonis Samaras, heftigsten Anfeindungen seiner europäischen Parteikollegen, der Troika und der internationalen Presse ausgesetzt – ein an sich grotesker Vorgang internationaler Einmischung, der zeigt, wie blank die Nerven innerhalb der EU lagen. Der „störrische Rebell von Athen“, polemisierte Spiegel-online mit kulturrassistischem Unterton, wiegele die Bevölkerung gegen die Regierung auf und „sabotiere den von EU und IWF geforderten Mentalitätswandel“.

Durch den internationalen Druck, die Verabschiedung des „Mesoprothesmo“ endlich vorzunehmen, spitzte sich die Situation weiter zu.  Der stellvertretende Regierungschef Theodoros Pangalos drohte angesichts einer möglichen Niederlage bei der Abstimmung über das nächste von der Troika diktierte Maßnahmenpaket indirekt mit dem Einsatz der Armee gegen die griechische Bevölkerung, eine Aussage, die umgehend vom Verteidigungsminister dementiert wurde. Putschgerüchte machten ebenso die Runde wie Befürchtungen einer Mobilisierung des Militärs, das im nordgriechischen Kilkis bereits den Einsatz im Straßenkampf geübt hatte.

Es war das vorletzte Mittel, zu dem die griechische Regierung schließlich nach mehr als einem Monat friedlicher Massenproteste schritt: Zu einer „Orgie staatlichen Terrorismus“, wie die linksliberale Athener „Eleftherotypia“ konsterniert kommentierte.  Der gesamte Syntagma-Platz vor dem Parlament wurde stundenlang mit Reizgas und Blendgranaten beschossen, wobei in diesem „chemischen Krieg“ Berichten zufolge auch Mittel eingesetzt wurden, die international geächtet sind;  es gab Prügelorgien in den Straßen rund um das Regierungsviertel bis in die Athener Altstadt Plaka hinein, wo motorisierte Einheiten Jagd auf Demonstranten machten, und selbst die Krankenstation der Aktivisten „Direkte Demokratie jetzt“ wurde davon nicht ausgenommen. Dass dabei auch wieder faschistische Schlägerbanden zum Einsatz kamen, zeigen Videos, auf denen diese von der Polizei auf das Gelände um das Parlament begleitet werden.  Mindestens 500 zum Teil schwer verletzte Demonstranten pflasterten den Weg des „Mesoprothesmo“ durch das griechische Parlament. Ein Journalist verlor durch eine Blendschock-Granate sein Gehör.

Trotz dieser selbst für griechische Verhältnisse außergewöhnlichen staatlichen Gewalteskalation gelang es nicht, den Syntagma dauerhaft zu räumen. Das „Unterhaus“ der direkten Demokratie konnte sich gegen die Gewalt behaupten.

… zur Legitimationskrise
Die Legitimation des Parlamentes und der in ihm vertretenen Parteien, aber auch die der Troika und der EU ist damit an eine Grenze gekommen. Es wirft ein trübes Licht auf die parlamentarischen Linksparteien, dass sie diese Vorkommnisse nicht zum Anlass nahmen, sich aus der Vouli zurückzuziehen und demonstrativ Partei für die Bewegung zu ergreifen.

Die traditionelle Sommerpause wurde Ende Juli 2011 erneut für eine polizeiliche Räumung genutzt; auch in Thessaloniki, wo sich die Protestbewegung am Weißen Turm, dem Wahrzeichen der Stadt, versammelt, sowie in anderen Städten ging die staatliche Exekutive gegen die Demokratie der Plätze und andere Zentren des sozialen und politischen Widerstandes vor. Es gelang der Regierung jedoch nicht, der Bewegung eine klare Niederlage zu bereiten. Es ist zu erwarten, dass die gesellschaftspolitischen Kämpfe im Herbst erneut aufflammen; einen Vorgeschmack haben die ersten Auseinandersetzungen um die Hochschulreformen Ende August gegeben, mit der der öffentliche Charakter der Universitäten aufgehoben, das universitäre Asyl abgeschafft und die höhere Bildung der kommerziellen Verwertung geöffnet werden soll. Gleichzeitig gibt es nach wie vor sektorale soziale Kämpfe, die nicht unmittelbar in Zusammenhang mit der Bewegung für direkte Demokratie stehen, so etwa der bereits erwähnte Streik der Taxifahrer Ende August 2011.

Mit der Bewegung für direkte Demokratie ist in Griechenland eine Situation entstanden, die auf Dauer unhaltbar ist: Dem inhaltlichen entleerten, verfassungs- und staatsrechtlich zweifelhaften Parlamentarismus eines in hohem Maße korrumpierten und delegitimierten Parteiensystems steht eine soziale Bewegung gegenüber, welche den öffentlichen Raum erobert hat mit ihren basisdemokratischen Volksversammlungen ein antagonistisches Demokratieprinzip vertritt. Damit hat sich die Vorform einer – wenn auch asymmetrischen – politischen Doppelherrschaft etabliert.  Entweder gelingt es der Bewegung, sich dynamisch auf alle gesellschaftlichen Bereiche, insbesondere die Sphäre der Ökonomie, auszudehnen, oder aber dem politischen Establishment gelingt es mit Rückendeckung der EU und des IWF, eine neue Form der autoritären Herrschaft zu etablieren. Viel wird daher davon abhängen, inwieweit es der Bewegung möglich ist, neben den spanischen Idignados Bündnispartner innerhalb der EU zu finden. So oder so dürften die griechischen Entwicklungen paradigmatischen Charakter für die Gesamtentwicklung Europas zukommen.

Mit freundlicher Genehmigung von Sozial.Geschichte Online der Universität Duisburg/Essen

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