Das Neueste über Anliegen

„Anliegen ernst nehmen, statt nachplappern.“ Mit diesem rätselhaften Slogan wirbt die CDU in Berlin. Links neben dem Slogan ist ein grüner Papagei mit rotem Büschel am Kopf zu sehen. Er schaut den Betrachter neckisch an und hat den schwarzen Schnabel ein wenig geöffnet. Man könnte denken, der Papagei würde den Slogan sprechen, die zweite Hälfte des Plakats wäre quasi seine Sprechblase. Dadurch tun sich gleich Abgründe der Interpretation auf. Wenn ein Kreter sagt: „Alle Kreter lügen!“, sagt er die Wahrheit oder nicht? Wenn ein Papagei sagt: „Anliegen ernst nehmen, statt nachzuplappern.“, plappert er nach oder nicht? Vom Kreter wissen wir, dass er zumindest theoretisch die Wahrheit sagen könnte. Er könnte sich beispielsweise eine Wahrheit ausdenken. Der Papagei aber kann gar nicht anderes als nachplappern. Also muss ihm einer diesen blöden Slogan vorgeplappert haben.

Man stelle sich vor, ein führender Politiker der Berliner CDU hätte seinem Papagei diesen Spruch beigebracht. Und das Viech hat ihn einfach nicht lernen wollen, weshalb der Politiker sehr viel Zeit und Mühe auf das Abrichten des Vogels hat aufwenden müssen. Dann würde jeder zugeben müssen, dass dieser Politiker Anliegen ernst nimmt. Es ist im Beispiel natürlich nur sein eigenes Anliegen, denn der Papagei hat so gut wie nichts davon. Vermutlich ist auch sein Verstand zu klein, das sprachliche Dilemma zu begreifen, wenn er, dem alle das Nachplappern nachsagen, plötzlich behauptet, er würde nicht nachplappern, sondern Anliegen ernst nehmen. Was die nicht näher bezeichneten Anliegen der CDU sind, könnte er natürlich auch nicht sagen.

Es müssen Anliegen sein, die man einem Papageien nicht mitteilen kann. Der würde sie am Ende ausplaudern. „Anliegen ernst nehmen.“ Wenn mir einer an der Haustür etwas andrehen will, dann nehme ich sein Anliegen sehr ernst. Er hat vielleicht Familie, ein teures Hobby, eine Nebenfrau, was weiß ich. Aus Vorsicht muss ich sein Anliegen, an mir Geld zu verdienen, ernst nehmen, weshalb ich ihm höflich die Tür vor der Nase zumache. Man stelle sich all die Berliner CDU-Politiker vor, wie sie die ihnen vorgetragenen Anliegen ernst nehmen. Da werden natürlich auch manche Türen höflich vor Nasen zugemacht, denn es gibt verschieden wichtige Anliegen.

Wer Kredit von einer Bank will, sollte einen guten Anzug tragen. Lehrer halten Schüler für klüger, wenn sie eine Brille tragen, und wer Kevin oder Chantalle heißt, wird von ihnen als minder klug eingeschätzt und damit auch geringer gefördert. Es ist also durchaus menschlich, wenn Politiker die Anliegen von Anzug- und Brillenträgern mit wohlklingenden Namen ernster nehmen und nachplappern, während sie die Anliegen von Kevin oder Chantalle nur ernst nehmen. Die beiden kennen sich auch mit geschlossenen Türen besser aus und ertragen sie leichter. Der Slogan enthält demnach gar keine neue Aussage, denn so ist es immer schon zugegangen. Man muss ihn sogar parteiübergreifend verstehen, wenngleich die CDU dieses nichtswürdige Verhalten für sich reklamiert.

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