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Kein Raum im Pataphysischen Institut wäre hoch genug, ein Gemälde von 3 x 5 Meter an die Wand zu nehmen. So hängt das Bild im Treppenaufgang zwischen Parterre und erster Etage. Selbst dort passt es nicht. Die ansteigenden Stufen begrenzen den Platz in der Breite. Daher hängt das Gemälde nah am hohen Fenster, als wollte es hinaus in die Sonne. Das Licht auf dem Treppenabsatz erhellt das Gemälde kaum. Es müsste dringend restauriert werden, man müsste die alte Firnisschicht abnehmen und die Stockflecken beseitigen, die just an einer wichtigen Stelle wachsen.
Das Bild zeigt den Heiligen Aldebert aus Gallien zusammen mit dem Erzengel Michael. Im Hintergrund ist eine leere, wellige Landschaft zu sehen. Der Erzengel Michael steht am linken Bildrand, wendet dem Betrachter den Rücken zu. Sein mächtiger rechter Flügel geht beinah diagonal durchs Bild, ist oben und unten angeschnitten. Rechts davon, etwas zurück, steht Aldebert. Auch seine Gestalt ist am unteren Bildrand auf Hüfthöhe begrenzt. Er trägt ein blaues Gewand und eine dunkelgelbe Kapuze. In seiner Linken hält er einen Apfel, als wäre er im Begriff gewesen, hinein zu beißen. Da aber ist der Erzengel Michael gekommen und hat die himmlische Post gebracht. Mit der Rechten hält Aldebert das Schreiben in Augenhöhe von sich weg und scheint darin zu lesen.
Stilistisch gehört das Gemälde zur Wiener Secession. Coster hatte es eine Weile dem Maler Maximilian Kurzweil zugeordnet, was sich aber nicht beweisen ließ.
Dieses Ölgemälde ist wirklich sonderbar, nicht nur, was den Bildaufbau betrifft, sondern auch sein Sujet. Aldebert lebte im 8. Jahrhundert und wurde schon zu seinen Lebzeiten vom Volk als Heiliger verehrt. Ihm folgten Heerscharen von Frauen nach. Seine Nägel und Haare wurden als Heiligtümer angesehen und weitergegeben. Aldebert behauptete, er verfüge über ein Schreiben von Jesus Christus persönlich. Es war in Jerusalem vom Himmel gefallen und vom Erzengel Michael aufgehoben worden.
Himmelsbriefe fielen im 8. Jahrhundert in großer Zahl. Im Jahr 789 mahnt Karl der Große in seiner Admonitio generalis, solche Werke sollten nicht gelesen, sondern verbrannt werden, damit sie das Volk nicht mit Lug und Trug bedecken. Der Hl. Bonifatius nannte Aldebert einen „betrügerischen Geistlichen, Irrlehrer, Schismatiker, Diener des Satans und Vorläufer des Antichrists“. Er warf Aldebert vor, seine Anhänger bestochen zu haben, damit sie verkündeten, sie wären durch seine Wunderkraft von ihren Gebrechen geheilt worden.
Coster will dieses blasphemische Gemälde auf dem Flohmarkt in Lüttich erstanden haben. Jedenfalls hängt es schon seit gut 20 Jahren im Treppenhaus des pataphysischen Instituts und verstört die Besucher.
Mein Telefon – ein Relikt aus alten Tagen. Es zeigt die Nummer des Anrufers nicht. Wenn es klingelt, schrecke ich auf, gehe hin und betrachte es misstrauisch, versuche aus seinem Rufton herauszuhören, welches Tor zu meinem Leben sich auftun wird.
Ich ahne nichts Gutes, nehme trotzdem den Hörer, denn es wird mich in jedem Fall erreichen, wenn nicht über diesen raschen Informationskanal, dann über einen anderen. SMS, E-Mail, Sackpost. Manchmal wäre mir ein reitender Bote lieber. Dann bestünde die Möglichkeit, dass er nach tagelangem Ritt unter die Räuber fallen oder von Wölfen zerrissen würde. Bis der Absender des Boten das erführe, könnten Wochen und Monate vergehen. Da hätte sich die Sache vielleicht schon erledigt, und ich würde nie mehr behelligt.
Coster ist dran.
„Ich weiß nicht genau, was du treibst“, sagt er. „Bis eben habe ich gedacht, die Papiere des PentAgrion sind deine Angelegenheit und berühren mich nicht. Das hat sich jetzt geändert. Und darum wäre mir lieber, du würdest dich nicht länger mit den Papieren beschäftigen.“
„Aber warum denn?“
„Da passiert was mit Aldebert. Er verändert sich.“
„Wie kann er sich verändern? Ich kann mit Photoshop fummeln, dass ein Bild sich wandelt, aber bei einem Ölgemälde geht das nicht.“
„Jetzt komm mir nicht mit deinen Gif-Animationen! Wir reden über Ölfarbe auf Leinwand.“
„Sag ich doch.“
„Hast du schon mal auf die Stockflecke geachtet, die sich just über dem Himmelbrief verbreiten?“
„Ja, hässlich. Sie verdecken ihn fast.“
„Jetzt nicht mehr. Ich sehe in der Struktur eindeutig was ganz anderes.“
„Was?“
„Ein Playboyheft.“
„Typischer Fall von Hineinsehen, wie bei dem gammeligen Toastbrot mit dem Bild der Jungfrau Maria.“
„Mir egal, ich sehe es, und das gefällt mir nicht.“
„Vielleicht war es schon immer da, aber du hast es erst jetzt erkannt?“
„Meine Institutsekretärin sieht es auch.“
„Nachdem du es ihr gezeigt hast. Es gibt für alles eine rationale Erklärung.“
„Das ist das, was du glaubst“, sagt Coster und legt auf.
Seltsam, dachte ich noch, er könnte sich das Phänomen anhand des Geleemodells erklären, so wie er es mir im Kerstensche Pavillon erklärt hat. Unmittelbar klingelte es erneut.
„Außerdem steht keine Vitrine im Kerstensche Pavillon!“
„Nicht?“
„Es ist ein Tisch, und da liegen keine Feuersteinwerkzeuge und Speerspitzen, sondern Fotos der ursprünglichen Türen, ein Gästebuch, Karten vom alten Lousberg, und darunter ist auch ein Plan vom Obelisken des Tranchot.“
„Ich hätte schwören können, dass da eine Vitrine steht.“
„Und ich dachte schon, du nutzt deine dichterische Freiheit. Aber wenn’s anders ist, steht es nicht gut um dich.“
„Aber hast du mir nicht an der schrägen Glasabdeckung der Vitrine das Geleemodell von Edward deBono erklärt?“
„Ich habe gesagt, stell‘ dir eine schiefe Ebene vor mit einer glatten Geleeoberfläche.“
4) Unter diesem unlöschbaren Eintrag, der glücklicherweise nur für Freunde zugänglich ist, findet sich seit gestern Nacht ein Trackbacklink zu Einhards neuesten Rechercheergebnissen. Sie sind außerordentlich beunruhigend.
5) In einem Eintrag „Nur für Freunde“ teilt Einhard seinem Freundeskreis mit, was im Nettesheimdialog fälschlich behauptet wird. Er zitiert sogar daraus. Ein bedauerliches Versehen.
15 Kommentare zu Die Papiere des PentAgrion (6) – Loch im schwarzen Netz