Nachtschwärmer Online – In den Heiligen Abend

Weißt du, was ich gestern getan habe? Du kommst nicht darauf: Ich habe mich begrenzt. Mit voller Absicht habe ich es getan. Da staunst du? – tocktock – es gefällt dir nicht? Schau dich zuerst einmal um; ich werde es dir gleich erklären. Fährt die Heilig-Abend-Draisine schnell? Guck, mein Haar weht kaum.

Tocktock

Vorgestern, als die Weiche schnellte für den rechten Weg, ja, da sind wir rasch gefahren. Und unsere Anfahrt zur Ypsilongabel, das war, du erinnerst dich, sogar eine rasende Fahrt.

tocktock

Siehst du, jetzt sind wir in der Ebene. Es ist dunkel, doch wir sehen weit. Wir sehen am Horizont die großen Halden. Wir nähern uns langsam, man merkt es kaum.

tocktock

Ich habe natürlich gestern gesehen, dass du erschöpft warst von dem Steilstück am Anfang des rechten Wegs. Tut mir leid, ich musste Tempo machen. Es wäre sonst nicht gegangen, denn die Anfahrt geht schwer.

Eisen auf Eisen rollt sich ab.

Keine Sorge, wir fahren heute verhalten. Denn bald müssen wir ausruhen, sonst wachsen wir nicht.

tocktock

Du hast irgendwie lustige Sachen an. Sie plustern sich ja sogar bei geringer Fahrt. Es war klug von dir, sie zu wählen. Denn es muss Luft zwischen dir und der Kleidung sein.

tocktock

Diese Luft erwärmst du mit deinem Herzen; doch nur, wenn es einen guten Abstand gibt zwischen dir und der Welt. Liegt deine Kleidung zu eng an dir, bist du weitgehend schutzlos der Kälte ausgeliefert. Dann musst du dir ein Heizöfchen suchen; und du denkst: Das beste Heizöfchen ist ein Mann. Oder eben eine Frau, wenn du ein Mann bist. Es ist ein Irrtum. Denn als bloßes Heizöfchen benutzt man einen Menschen nicht.

tocktocktock

Du hast es gehört. Also achte in Zukunft immer darauf. Schütze dich selbst gut gegen die Kälte der Welt. Du hast Wärme genug. Du darfst sie nur nicht verschleudern. Darfst dich niemals erschöpfen und zu sehr einengen, sonst bist du in Gefahr. Darum habe ich mich begrenzt. Ich spürte, wir brauchen endlich Ruhe. Was habe ich getan?

Tocktock

Siehst du übrigens das Dorf dort drüben? Wir fahren gleich hinein. Es ist Alt-Merkstein.

Tocktock

Was ich tat? Du bist schon wieder ungeduldig? Nur die Ruhe, du wirst es erfahren. Ich habe mir zwei Mittel besorgt. Das eine macht mir die nächsten sieben Jahre gut. Es macht mich stark. Es hilft mir, die Draisine zu fahren. Denn sie hat keinen Antrieb, der Antrieb bin ich.

Tocktock

Sieh, die Draisine – sie besteht aus? Richtig, einer Plattform. Darauf sitzen wir und sitzen bequem. Manchmal jedoch muss ich auch stehen, denn die Draisine zu fahren, ist nicht immer leicht. Vier Räder hat unsere Plattform, das hast du gesehen. Es sind Eisenbahnräder, sie müssen ja passen. Denn wir benutzen bei unserer Fahrt natürlich Eisenbahngleise. Und Eisenbahngleise bilden ein NETZ. Ein Verkehrsnetz, auf dem wir Menschen und Güter transportieren.

Tocktock

Die Draisine jedoch transportiert unsere Gedanken. Sie fliegen mit uns übers Netz dahin. Es gibt kaum eine Grenze für unsere Fahrten. Denn das Netz, das wir gerade gleichzeitig benutzen, besteht aus?

Tocktocktock

Nichts. Es sind nur digitale Zeichen, die herumflitzen und Gedanken transportieren. Wir haben es besser als zum Beispiel Herr Mehdorn, dem das eiserne Schienennetz gehört. Er muss sich kümmern, muss sehr viel mehr tun. Denn sein Netz, das hat Eisen, das rostet oder verkrümmt sich.
Guck mal, hier gibt es eine Welle im Gleiskörper. Weißt du woher das kommt? Es sind Bergschäden. Denn all die leeren Stollen unter diesen Gleisen, ja sie stürzen manchmal ein, und dann sehen und spüren wir das. Wir fahren eine holprige Strecke, zum Glück ist sie heil. Wenn unter uns tief in der Erde eine Halle einstürzt, dann reißt es ein Loch. Dann stürzt der Boden ein und verschlingt etwas.

Tocktock

Ja, wir haben ein fast unzerstörbares Netz, da es aus Nichts besteht, und wer kann das Nichts zerstören? Du kannst natürlich den Stromstecker ziehen, dann bist du abgeschnitten vom Netz. Nicht ganz. Denn wir beide haben eine gedankliche Verbindung. Sie besteht schon, so lange wir uns kennen. Sie ist immer mehr gewachsen. Sie wächst weiter, wird stärker, wird ein eigenes Netz. Dieses Netz ist noch feiner. Es ist weniger als nichts, das ist eine Form der Magie.

Die Gedanken, die Ideen, sie brauchen keinen Strom. Sie brauchen nur uns, und wenn das digitale Netz einmal fehlt, dann haben wir andere Mittel uns zu verbinden. Das digitale Netz ist schier endlos groß. Man kann es niemals gänzlich erfahren. Das dürfen wir auch nicht, denn wir würden uns verirren, verfahren unter hedonistischem Volk. Die Welt ist wirr. Deshalb, meine Liebe, wir müssen uns begrenzen. Selbstbegrenzung ist ein wichtiger Punkt. Man kann sehr viel tun in einem kurzen kleinen Menschenleben, doch wenn wir uns verzetteln und verirren, können wir nur wenig oder …

Tocktock

…gar nichts.

Darum habe ich mir von meiner weisen Frau ein zweites Mittel erbeten. Sie hat es mir gegeben, es ist schwach potenziert. Es dämpft meine Kraft, damit ich nicht fortwährend rase. Denn wenn ich rase und rase, wird es dich von der Plattform fegen. Ich muss achtsam sein, denn ich will dich nicht verlieren. Ich müsste die Draisine stoppen, müsste abspringen und eine Weile den Gleisen entlang ins Gestern laufen. Dort finde ich dich. Du sitzt dann auf dem Schotter, bist traurig und vielleicht auch verzweifelt. Du glaubst, du hättest den Anschluss verloren. In Wahrheit war ich der rasende Depp. Deshalb habe ich mich begrenzt. Denn ich will dir ein guter Leiter sein, dein Lehrer und dein Schüler. Ein Freund und ein Ritter bin ich Dir auch. Wenn du Hilfe brauchst, kannst du auf mich zählen. Und was das Licht für die Welt betrifft, sind wir nicht allein. Bald werden wir eine kleine Schar guter Männer und Frauen sein. Das ist nötig, denn es reicht nicht, dass nur eine Draisine fährt. Wenn man etwas Großes schaffen will.

Tocktocktock

Auch starke Frauen können eine Draisine fahren. Das versteht sich von selbst, ist völlig klar. Nur fahren sie eben anders als wir Männer. Sie fahren mehrgleisig, und ich weiß verdammt noch mal nicht, wie sie das tun. Du weißt es, du bist eine Frau. Wenn du es gelernt hast, wirst du so gut wie ich fahren. Nur anders eben, manchmal auch besser. Ich komme nicht dahinter, warum das so ist. Dabei habe ich doch die Frau studiert und studiert. Einiges weiß ich, aber ich weiß offenbar nicht genug. Das ist gut so. Ein schönes Geheimnis soll man achten und nicht ergründen.

tocktocktock

Siehst du, und weil ich ruhig bin ist meine Magie heute sanft. Es wäre anders, hätte ich mich nicht gebremst.

Tocktock.

Hast sicher gedacht, ich würde ein Feuerwerk von magischen Bildern entfachen. Einen strahlenden Weihnachtsbaum oder so. Die Funken von Wunderkerzen hätten dich umschwirrt, der Rauch wäre dir in die Nase gestiegen. Die Regensburger Domspatzen würde ich schmettern lassen, vielleicht die New Yorker Philharmonie. Das hast du gedacht? Wirklich? Hör mal, einen Weihnachtsbaum hast du vermutlich bei dir in der Stube, oder? Kerzen und Wunderkerzen auch. Und wenn du Jubelgesänge und Streicher hören willst, legst du doch vermutlich eine CD auf. Warum also sollte ich das tun?

Tocktock.

Dies hier wird eine besinnliche Fahrt. Nur ein paar Dinge werde ich noch zeigen. Wir halten jetzt kurz an dem Bahnsteig von Alt-Merkstein. Er nähert sich, wir gleiten hinein – ins Licht der Lampen – und wieder hinaus. Hier ist ein Abstellgleis, wir halten an. Wir gehen ein paar Meter hinab an die Wurm. Du weißt doch die Wurm ist ein Fluss. Er hat das weite Tal dort unten geformt.

Wir verlassen den Ort, wenden uns nach – links. Die wenigen Häuser schwinden. Jetzt sind wir allein auf weiter Flur. Dort unten im Wurmtal, da liegt der Weiler Wildnis. Ein schrecklicher Name, findest du nicht?
Und wir haben uns auch noch nach links gewandt.
Sind wir in Gefahr? Was meinst du?

Der Wind streicht über die einsamen Felder, er zieht sogar durch unseren Schutz. Kein Licht weit und breit, nur in der Ferne. Winzige Punkte flackern dort. Wir allerdings haben keine Laterne. Wir frieren, der Wind treibt auch Nässe heran. Und ich gehe rasch, du bist etwas hinter. Du bist tapfer, machst einen Tripelschritt. Du willst mir zeigen, dass es dir nichts macht, oder? Trotzdem, meine Liebe, komm schlüpfe mit der Hand in meine. Es ist witzig, ich habe immer warme Finger. Merkst du das!? Merke es dir für alle Zeiten. Meine Finger sind immer warm. Wenn du Trost brauchst oder ängstlich bist, schlüpfe in meine Hand, und es ist gut. Hinter uns am Rechten Weg, dort liegt der Ort Alt-Merkstein. Ein alter Merkstein und doch immer jung. Das bin ich für dich, merkst du dir das?!
Wenn du einmal in einer solchen öden Gegend ganz auf dich allein gestellt bist. Dann blicke einmal auf zum Himmel, schaue dann in dich hinein und dann denke an mich. Denk an Alt-Merkstein. Du wirst mich dann sehen, es hilft!

Unten am Ufer der Wurm liegt versteckt im Hang ein altes Stollenmundloch. Schau einmal hinein. Es führt tief hinab unter die Erde, wo nie die Sonne scheint. Es ist der Eingang zu einem düsteren Reich. Kein Licht ist dort unten, denn die Männer sind weg. Sie haben alles zurück gelassen. Da ist nur noch Gangsystem, Erdrutsch, Wassereinbruch, Schlammloch, Spinngewebe und Grottenolm.

Es ist dort noch nie ein Platz für Menschen gewesen. Sie mussten schuften, sich krümmen oder gar kriechen, sie waren ständig in Lebensgefahr. Und kamen sie ans Licht, dann waren sie gezeichnete Männer. Kohlschwarz im Gesicht, Kohlenstaub am Knie. Schrundige Hand und schmerzende Knochen. Hunger und Durst. Jetzt wäre ein Mensch dort völlig verloren. Elende Schwärze, nahe am Nichts. Das sind die schwarzen Kohlengruben unter uns. Komm, wir hauen ab. Das ist keine gesunde Welt. Wir wollen sie meiden. Du würdest vermutlich gerne wissen, was das soll. Nun meine Liebe, komm einmal in meinen Arm. Ich muss dir jetzt einmal was flüstern: „Das hier war das Dunkelste, was ich dir in der Gegend zeigen kann. Doch es gibt auch über der Erde viel Dunkelheit. Du weißt es, du siehst es, willst es oft nicht sehen. Manchmal, meine Liebe, müssen wir hingucken. Das Elend, die Qualen, das Krümmen um uns herum. Streitende Menschen, Egoismus und Geldgier, Hinterhalt und Fußangel, Gleichgültigkeit gegenüber dem Bettelmann. Die Liste könnten wir fortsetzen …

Also, meine Liebe, wir haben den Weg gleich geschafft. Drüben wartet die gute Draisine, sie trägt uns sanft in den heiligen Abend. Wir gleiten, du merkst es, du fühlst dich wohl.

TOCKTOCKTOCK

Hörst Du? Wir sind wieder auf dem rechten Weg. Wir haben das richtige Gleis gefunden. Es begrüßt uns und leitet uns in die schöne Nacht. Es schickt uns freundliche Botschaften.

tocktocktock

Heute haben wir den Schutz der Heiligen Nacht. Uns konnte nicht wirklich etwas geschehen. Doch diese Heilige Nacht hat bald ein Ende. Dann ist es wieder aus mit dem Frieden. Verstehst du mich? Jetzt kann ich es dir sagen, du fühlst dich wieder stark. Wir können etwas tun. Gegen die Finsternis und das elende Krümmen. Wir sind vernetzt, du und ich. Wir müssen uns einfach nur aufrichten. Das Gleis ist sicher.

TOCKTOCKTOCK

Komm an meine Seite, meine Liebe, komm und richte dich auf! Gib mir die Hand. Ich halte Dich. Spürst du den schönen Fahrtwind auf deiner Stirn?
Schau einmal auf. Da, in den Himmel. Er hat sich geklärt, die Sterne zeigen sich.

Tocktocktock

Sag mal, ist das nicht fein, was wir hier machen?

TOCKTOCKTOCK

Wir beide stehen aufrecht und fürchten uns nicht. Wir gleiten einfach über den rechten Weg!

TOCKTOCKTOCK

Du an meiner Seite, und ich neben dir. Du lächelst so hübsch in deiner Kapuze! Es geht mir sogleich tief ins Herz. Du bist so ein schönes warmes Wesen, es ist eine Freude mit dir zu sein. Leg deinen Kopf ruhig auf meine Schulter, lehne dich einfach leicht an mich an. Meinen Arm will ich um dich legen. Wir schauen hinauf in den Himmel und wissen, was gleich kommt. Oben beim Nordstern wird es geschehen. Denn Nordstern so hieß auch die Zeche hier. Der Nordstern war die gute Hoffnung der Bergleute, dort ist auch die Hoffnung für dich und mich.

Gleich ist es so weit.

TOCKTOCKTOCK

Gleich werden wir eine Sternschnuppe sehen. Oben beim Nordstern, da taucht sie auf. „Halte Deinen Wunsch parat! Mach dich gefasst! Denke dir deinen Traum! Mach dir ein Bild von deinem Wunsch. Denke ein gutes Bild! Machst du das?! Wünschen wir zusammen? Gut, dann hält es doppelt.

TOCKTOCKTOCK

„Bist du so weit?!“ Ich verstehe dich nicht. Denn ich habe ein lautes Brausen im Ohr. Du musst deinen Wunsch ganz laut denken, verstehst du?!
Rufe, wenn du soweit bist!

TOCKTOCKTOCK

Alles klar? Hast du deinen Wunsch?! Dann pass auf, jetzt am Himmel, siehst du? Ein Stern …
– schnuppt –
… ganz langsam, denk deinen Wunsch …
… nur die Ruhe … nimm Dir Zeit ……
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…. TOCKTOCKTOCK …
…. TOCKTOCKTOCK …
…. TOCKTOCKTOCK …

Liebe Freundinnen und Freunde des Teppichhauses
Ich wünsche euch und euren Lieben ein gutes, besinnliches Weihnachtsfest!

„Frohe Weihnachten!“
Trithemius

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