Aufwachen, wenn die Guten über den Abgrund fliegen

Das Verhalten von Studiopublikum im Fernsehen hat sich verändert. Man sieht kaum noch Telewinker, den Alptraum jedes Bildregisseurs aus den Anfängen des Fernsehens: „Huhu, Tante Margarete, ich bin im Fernsehen, winkewinke!“ In die Kamera winken nur noch Leute aus dem ehemaligen Tal der Ahnungslosen. Beobachten lässt sich aber eine andere Unart. Immer wenn das Publikum ins Bild gerät, sieht man welche andächtig gen Himmel blicken, als ob die Kamera sie bei einer Zwiesprache mit Gott erwischt hätte. In Wahrheit gucken sie nur hoch zum Studiobildschirm, ob sie auch gut im Bild sind, erschrecken dann aber, wenn sie sich ganz uncool hochglotzen sehen.

Wenn man sich abends durchs TV-Programm zappt, fällt die Dominanz US-amerikanischer Actionfilme und Sitcoms auf. Es ist eine beständige kulturelle Hirnwäsche. Der deutsche Fernsehzuschauer lacht über Witze, über die ein US-Amerikaner lacht, und damit er auch weiß, wann der Ami lacht, ertönt aus dem Off ein Lachen aus Konserven. Dieses original amerikanische Konservengelächter wird garantiert mit den Sitcomfolgen getrennt geliefert, damit es bei der Synchronisation nicht verloren geht. Dass US-amerikanische Konserven lachen können, liegt vermutlich am genmanipuliertem Inhalt. Wenn die Dosen lachen, lacht der unbedarfte Deutsche gerne mit.

Was noch auffällt: Es gibt keine US-Actionfilme ohne Autoverfolgung. Autoverfolgung gehört in den Film, meistens ohne Sinn und Verstand, höchstens um den Film zu verlängern, weil der Plot nicht mehr hergibt. Früher bin ich nie vor dem Fernseher eingeschlafen, aber wenns dann losgeht mit Autoverfolgung, mit Rempelei und Türklinkenduellen, Raserei quer über Kreuzungen, über Bürgersteige, durch Ladenlokale, durch einen Tunnel – spätestens wenn sie in den Gegenverkehr geraten und Unbeteiligte zerschrotten, schlafe ich schon fest, und was mich dann wach klingelt, ist nicht mein Wecker, sondern die Bimmelei an einer hoch fahrenden Hebebrücke. Und ich sehe den Guten noch gerade rechtzeitig rüberfliegen.

Was aus meinem Alltag, wo noch nie eine Autoverfolgung war und nie Konserven im Off gelacht haben: Eben kam mir auf der Straße eine Person entgegen. Ich fragte mich, ist es ein Mann oder eine Frau, die wie ein Mann geht? Aber dann war es doch ein Mann mit langen Haaren. Ein Mann, der wie eine Frau ging, die wie ein Mann geht. Voll durchgegendert das Mensch. Endlich weiß ich, was Gender Mainstreaming bedeutet. Ich habe übrigens heute vergeblich versucht, einen Lachsack zu kaufen. Ein Einzelhändler wurde glatt nachdenklich. „Ich habe schon ewig keinen gesehen. Die jungen Leute kennen die ja gar nicht mehr.“ „Das wäre doch ein Geschäftsidee“, riet ich ihm, „im Internet gibts die noch.“ Falls hier Kinder mitlesen: Der Lachsack ist ein Scherzartikel aus dem Jahr 1968, erfunden von einem Mann namens Walter Thiele, der damit Millionär wurde. Sonntag ist übrigens Weltlachsacktag.

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