Thomas Haendly – Stilist über den Tod hinaus


Am Samstag um 13 Uhr war ich in Aachen bei der Trauerfeier für meinen guten Freund und Vertrauten Thomas Haendly. Obwohl er den Freitod gewählt hatte und folglich in der Diktion der katholischen Kirche ein „Selbstmörrrder“ ist, fand die Trauerfeier in einer katholischen Kirche statt. Der Pfarrer der Gemeinde sagte sogar ein paar schöne Worte. Der ich ein verstockter Heide und schon lange aus der Kirche ausgetreten bin, staunte ich über die Wandlungsfähigkeit und neu erblühte Toleranz der Kirche im erzkatholischen Aachen.

Allerdings ist
Thomas immer ein gläubiger Mensch gewesen und hat, wie der Pfarrer zu berichten wusste, just diese Kirche direkt neben dem Aachener Dom immer wieder still aufgesucht und Kerzen aufgestellt, an der Säule, wo man in einem Buch Fürbitten hinterlassen konnte. Für mich haben da mehrfach Kerzen gebrannt. Einmal bat Thomas um gutes Wetter für mich, als ich mit dem Fahrrad eine Lesereise von Hannover nach Aachen gemacht habe und im ständigen Regen zu ersaufen drohte, dann bei meinen beiden Krankenhausaufenthalten. Es hat jedes Mal geholfen. Im Ruhrtal kam die Sonne heraus und blieb für den Rest meiner Fahrt, natürlich nur am Tag, die Krankenhausbetten verließ ich auf eigenen Füßen, ebenfalls bei Tag.

Thomas hatte jedenfalls dezidierte Anweisungen für seine Trauerfeier hinterlassen, wollte keine bombastischen Orgelklänge und auch sonst kein Brimborium aus dem reichhaltigen Repertoire der katholischen Kirche. Stattdessen sangen wir drei Kirchenlieder, ich brummte mehr schlecht als recht mit, ein Schauspieler sprach drei Gedichte, Freunde verlasen Fürbitten, bei denen ich weinen musste, und von der Orgelempore intonierte eine Opernsängerin das Requiem von Johannes Brahms, bei dem ich ebenfalls weinen musste. Ich hatte tatsächlich eine schwarze Krawatte bei mir, hatte sie aber glücklicher Weise im Koffer lassen können, weil ich rechtzeitig erfuhr, dass Thomas legere Kleidung gewünscht hatte. Meine schwarze Krawatte hasse ich nämlich. Ich habe sie irgendwann im letzten Jahrhundert gekauft und vermutet, sie ist aus alten Joghurtbechern gemacht, als man noch nicht verstand, glatte Joghurtbecherfasern zu spinnen, die sich als Krawatte nicht wie Schleifpapier anfühlen. Die Kirche war, landläufig gesagt, gerammelt voll, worüber ich nicht weinen musste und auch der Pfarrer sich erkennbar freute. Das hatte er gewiss ewig nicht mehr erlebt.

Sein Leben hatte Thomas immer stilvoll gestaltet, und jetzt hatte er die Eckpfeiler für eine schlichte, stilvolle Trauerfeier noch rechtzeitig festgelegt. Ich weiß nicht, ob ich mir diese Gedanken machen wollte. Aber ich komme auch nicht in den Himmel, weil ich nicht an einen Himmel glaube. Thomas glaubte daran, obwohl er ein weltzugewandter Mann war, der nichts anbrennen ließ und vor allem nach eigenen Gesetzen und klaren Vorstellungen lebte, auch das Altern betreffend. Zu seinen Vorstellungen gehörte, dass das Lebensbuch eines jeden bereits geschrieben ist, dass man nach dem Tod wiederkehre, dass in die Hemdärmel ein Kniff gebügelt werden muss, weil „manche Frauen darauf stehen“ (vergl. Bügelvideo) und dass ein stilvoller Mann nach 18 Uhr keine braunen Schuhe mehr tragen dürfe. Ich kenne nur die Vorschrift: „Kein Bier vor vier“, woran wiederum er sich kaum gehalten hat. Zumindest trank er beim Mittagstisch in seinem geliebten La Statione immer Rosé. An sonnigen Tagen konnte man ihn schon am Nachmittag vor dem Postwagen beim Rathaus an Tisch 43 finden, wo er stilgerecht Kölsch trank, in sein Moleskinbüchlein schrieb und Hof hielt. In der Silvesternacht war er noch im Smoking unterwegs gewesen, und gewiss ist er in den Himmel seiner Vorstellung stilvoll gekleidet eingetreten, hatte die passenden schwarzen Schuhe an und je einen scharfen Kniff in den Ärmeln des Letzten Hemdes, der himmlischen Frauen wegen. „Man kann ja nie wissen“, ließ schon Kurt Schwitters in seinen Grabstein gravieren.

Thomas war weiß Gott ein Jäger und Sammler, sammelte nicht nur absurde Dinge wie genau einhundert Kugeln, Aachen-Rekorde, Überraschungseierfiguren, Fotos von Bananenschalen in allen Verrottungszuständen, sondern sammelte auch Menschen, hatte Freunde in allen Zuständen des Blühens und Verblühens, die er immer mit ausgesuchter Freundlichkeit und Zuwendung bedachte. Ein gut 90-jähriges Fräuchen, am Stock gehend, sagte mir einmal über Thomas: „Dat is ene Sonnyboy!“ Die Erlebnisse seines überaus reichhaltigen Lebens als Künstler, Architekt, Stadtplaner, Förderer der Schönen Künste, Mäzen und Frauenflüsterer waren ihm „bunte Bildchen“. Ich habe ihn im Verdacht, dass sein Lebensbuch wie ein Panini-Sammelalbum war, und vermutlich war es zuletzt voll, und er hatte zu viele Bildchen doppelt. Deshalb sein Freitod.


Thomas Haendly vor dem Postwagen – Videostandbild – Zum Video: Standbild klicken

Nach der Trauerfeier traf sich der große engere Kreis seiner Freundinnen und Freunde im Franz, einem Lokal, in dem wir noch am 29. Januar 2013 seinen 70. Geburtstag mit ihm gefeiert hatten und wo er immer gerne noch spät auf einen Absacker oder zwei eingekehrt war. Wo ich herkomme, trifft man sich nach der Trauerfeier, um „et Fell ze versuffe“ (das Fell (des Toten) zu versaufen), weil sie gemeinhin auf Kosten des Verstorbenen geht. Bei Thomas passte das besonders, denn im Leben hat er auch gerne für alle bezahlt. Fell versaufen klingt zwar roh, aber besser als Leichenschmaus, womit ich immer Omophagie oder Pietätskannibalismus verbinde.

Beim Versaufen von Thomas Fell solle es fröhlich zugehen, teilten die beiden rührigen Freunde mit, die seinen Nachlass regeln. Aber der Frohsinn blieb verhalten, weil der uns alle verbindende Mann einfach fehlte. Immerhin legten wir eine Adressenliste an, und es galt der allgemeine Entschluss, dass wir uns in einem Jahr an seinem Geburtstag im Goldenen Einhorn treffen wollen, das sowas wie sein Wohnzimmer gewesen ist. Vielleicht wurde es nach vier Uhr noch lustig, aber ich musste um drei Uhr zum Zug und kam nach vielen Umarmungen und geschüttelten Händen rechtzeitig weg. Aufbrechen musste ich so früh, weil ich in Köln eine bezaubernde Frau, eine ehemalige Schülerin, auf einen Kaffee treffen wollte. Ich bin sicher: Thomas hätte es genauso gemacht.

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22 Kommentare zu Thomas Haendly – Stilist über den Tod hinaus

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