Medialer Herbstbummel

Zeitungsherbst

Vorgestern

Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts dachte der Chefredakteur der New York Times über die Zukunft seines Mediums nach. Seine Vision: Zeitungen kämen morgens aus dem Faxgerät. Das Trägermedium wäre eine abwaschbare Folie. Nach dem Lesen würde die Zeitung weggewischt, und die Folie könnte für die nächste Ausgabe wiederverwertet werden.

Zunächst hat die Idee etwas Sympathisches, denn sie greift auf eine antike Tradition zurück. Die Tinte des Altertums war nicht wasserfest. Mit einem Schwamm konnte sie vom Papyrus abgewaschen werden. Der römische Dichter Martial (40-104 n. Chr.) schickte seinem vollendeten Buch gleich einen Schwamm mit, damit der Freund den Text auswischen konnte, wenn er nicht gefalle. Manche Autoren bedienten sich beim Löschen missratener Textstellen der Einfachheit halber ihrer Zungen. Bei einem Wettbewerb der Dichter am Hofe des römischen Kaisers Caligula sollen die durchgefallenen Poeten gezwungen worden sein, ihre Ergüsse selbst abzulecken.

Die Vision der abwaschbaren Zeitung ist nicht Wirklichkeit geworden, das Internet hat sie unnötig gemacht. Da jedoch vermutlich niemals ein Chefredakteur zu mir nach Hause gekommen wäre, um seine Zeitung abzulecken, ist das nicht wirklich bedauerlich.

Gestern

Eine täglich abgewaschene Zeitung hätte auch eine nachträgliche Überprüfung von Aussagen unmöglich gemacht. Alte Zeitungen sind historische Dokumente. Trotzdem ist es nicht ratsam, sie in einer Drei-Zimmer-Wohnung zu sammeln, wie es ein Wiener getan haben soll. Am Ende konnte er sich zwischen den Zeitungsstapeln nur noch durch schmale Laufwege bewegen. Selbst das Aachener Zeitungsmuseum sammelt nur erste und letzte Ausgaben einer Zeitung sowie Exemplare, die herausragende Ereignisse des Weltgeschehens dokumentieren.

Am Freitag vollzog
sich ein herausragendes Ereignis in der deutschen Presselandschaft, und ich hatte es zunächst verpasst, da ich den ganzen Tag im Lektorat eines Verlags zugebracht hatte, wo wir die Endfassung eines Fachbuches erstellten. Gegen 20:00 Uhr frage ich vergeblich in der Tankstelle nach, und auch beim freundlichen Iraner, der gerade die Aushangtafeln in seinen Kiosk räumt, ist die Zeitung ausverkauft. Wo kriege ich jetzt noch eine Zeitung vom Tage her? Schräg gegenüber liegt der Bambi-Grill, und da ich ohnehin zu müde zum Kochen bin, beschließe ich, mir Pommes zu holen, die in Aachen Fritten heißen, was zum Beispiel im Ruhrgebiet keiner versteht, wie ich letztens erfahren habe.

Exkurs Bambi-Grill
Der Kinderfilm Bambi von 1942 ist ein Zeichentrickfilm der Walt-Disney-Studios. Die Vorlage lieferte das 1923 erschienene Buch „Bambi, ein Leben im Walde“ von Felix Salten. Als Disneyfigur erlangte das Rehkitz Bambi internationale Berühmtheit, so dass der Name mit einem Rehkitz gleichgesetzt wird wie Tempo mit einem Papiertaschentuch. Warum das Schnellimbiss-Lokal Bambi-Grill heißt, erschließt sich ohne weiteres nicht. Vermutlich dreht sich zartes Rehkitzfleisch auf dem Dönerspieß. Wer im Bambi-Grill auf sein Essen wartet, dem steht ebenfalls vorzügliche geistige Nahrung zur Verfügung. Auf den Tischen liegen die Süddeutsche Zeitung, die F.A.Z. und das Handelsblatt aus. Dieser Umstand verweist auf den Kundenkreis, denn der Bambi-Grill liegt im Aachener Hochschulviertel. Die Zeitungsauswahl spiegelt die politische Ausrichtung heutiger Studenten.

Im Bambi-Grill hockt einer auf einem Schemel, isst Bambi-Geschnetzeltes in dicker Soße mit Fritten und liest nebenher die F.A.Z. Mist! Hoffentlich macht der jetzt keine schmantigen Flecken auf die Zeitung, denn genau die will ich der Bambi-Grill-Bedienung abschwatzen.

Leider pickt der Mann elend langsam in seinem Teller herum, und macht meine Hoffnung zunichte, er werde fertig mit Essen und Lesen sein, bevor ich meine Pommes bezahle. Entweder ist die FAZ so interessant, dass er kaum zum Essen kommt, oder aber er kaut auf jedem Happen Geschnetzelte 30 mal, um sich wie ein alter Indianer beim Rehkitz zu bedanken. Trotzdem frage ich die Besitzerin hinter der Theke, ob ich ihr die Frankfurter Allgemeine Zeitung abkaufen könne, denn ich hätte keine mehr bekommen. Ob sie den Grund für meinen Wunsch versteht, weiß ich nicht, doch sie deutet freigebig auf die Zeitung und sagt, ich könnte sie haben. Über der F.A.Z. sitzt allerdings stur wie ein Esel der langsame Esser. Deshalb vereinbare ich mit meiner Gönnerin, die Zeitung am Samstag abzuholen. Dann jedoch muss ich mir das Exemplar aus der Altpapiertonne suchen, denn der Sohn der Besitzerin hat sie bereits entsorgt.

FAZ mit neuem LayoutMein Exemplar der F.A.Z. riecht ein wenig. Man hat Pommes, Currywurst, Döner und sonst was über ihr verzehrt. Trotzdem bin ich froh, diese besondere Ausgabe zu besitzen. Die F.A.Z. hat nämlich am Freitag ihr traditionelles Layout aufgegeben. In einem Leitartikel auf Seite eins beschreibt FAZ-Mitherausgeber Werner D’Inka, was sich geändert hat und warum.

Das Layout ist das
Gesicht einer Zeitung und macht sie unverwechselbar. Deshalb ist es stets ein Wagnis, die bekannten Gesichtszüge zu verändern. Wer sich liften lässt, mag sich anschließend schöner finden. Trotzdem besteht die Möglichkeit, dass andere sich befremdet fühlen und sich fragen, ob sie es noch mit der selben Person zu tun haben. Deshalb titelt D’Inka: „Wir bleiben uns treu“, was ein wenig selbstbezüglich wirkt, denn als Leser ist man eher daran interessiert, ob einem die Zeitung treu bleibt. Was hat sich geändert? Auf der ersten Seite erscheint ab jetzt ein Foto und zwar in Farbe. Die Frakturschrift über den Kommentaren ist durch eine schmalfette Times ersetzt. Die Trennlinien zwischen den Spalten sind entfallen, die Spalten selbst sind durch verschieden breite Stege voneinander abgesetzt. Man will dem Leser die Orientierung erleichtern, damit er sich nicht in der Seite verirrt und versehentlich in einem Artikel nebenan weiter liest. Mehr weißer Raum macht die Zeitungsseite lichter. Das heißt, dass die Artikel kürzer als früher sind. Bleiwüsten wird es deshalb in der FAZ nicht mehr geben; Kanäle des Lichts führen das Auge, und wem ein Text zuviel Mühe macht, der findet Erholung und Zerstreuung in den Oasen der Farbfotos.

Vor dieser Radikalliftung hat man sich per Marktforschung rückversichert, und D’Inka verkündet froh: „Mit den Neuerungen entspricht die Redaktion dieser Zeitung den Wünschen einer großen Mehrheit der Leser. Der Souverän hat gesprochen (…).


Heute

Was ist los mit dem Souverän Zeitungsleser? Er ist offenbar hibbelig geworden und mag nur noch ungern lange Texte lesen. Die audiovisuellen Zerstreuungsmedien haben seine Lesegewohnheiten verändert, und zwar so radikal, dass selbst die als konservativ geltende F.A.Z. ihr Erscheinungsbild ändern muss. Von der Frakturschrift vermutet D’Inka zu Recht, dass ihre Kenntnis langsam verloren geht. Viele jüngere Leser haben Schwierigkeiten damit.

Am heutigen Nachmittag habe ich auf der Dachterrasse gesessen, um die Druckfassung des Buches noch einmal zu kontrollieren, bevor es am Montag in die Druckerei geht. Unter der blitzenden Herbstsonne strahlte das Papier im reinsten Weiß, und bei diesem ausgezeichneten Kontrast zwischen Blatt und Druckerschwärze konnte ich sogar ohne Lesebrille arbeiten. Obwohl ich mich manchmal mit dem Wind um den Manuskriptstapel zanken musste, habe ich konzentriert geschaut und gelesen, mit einem Bleistift die Seiten abgehakt oder hie und da eine kleine Korrektur angemerkt. Der Mensch braucht Material, um zu begreifen. Deshalb sollte man die Endkontrolle eines Textes nicht am Bildschirm vornehmen. Man braucht das Bewusstsein von Material, um die Schrift ernst zu nehmen, die eben nicht einfach abzuwaschen ist oder in einer amorphen digitalen Form daherkommt, jederzeit zu verändern oder spurlos zu tilgen. Die Idee der sorgfältigen Korrektur gehört zum Printmedium. Sie ist ein Relikt der verschwindenden Gutenbergkultur, in der Setzer und Korrektoren noch mit dem Druckfehlerteufel kämpften, zu dessen Vertreibung sie sich mit „Gott grüß die Kunst!“ begrüßten. Sorgfältige Korrektur ist dem Internet eher fremd. Kaum jemand macht sich die Mühe und druckt zum Beispiel einen Blogtext zum Redigieren aus, bevor er ihn veröffentlicht. Digitales Schreiben verführt zur Schludrigkeit. Und schludrig Geschriebenes wird mit Recht schludrig gelesen.

Mittwoch-BastelnAch ja, der
Ausdruck, mit dem ich auf der Dachterrasse gesessen habe – das Buch heißt „Zeitung in der Primarstufe“ (bibl. Angaben s.u.). Es bietet didaktische Grundlagen für das Lernen mit der Tageszeitung. Neben theoretischen Basistexten enthält es eine Vielzahl von Unterrichtsvorschlägen, -beschreibungen und Erfahrungsberichten von Grundschullehrerinnen und -lehrern. Sie zeigen, wie sich schon Kinder der ersten Klassen an die Zeitung heranführen lassen, indem sie lesen, auswerten, mit ihr lernen, selbst für die Zeitung schreiben oder mit dem Zeitungsmaterial gestalten. Ja, auch das Basteln mit der Zeitung hat seinen Wert. Das ist machen im alten Wortsinne, „kneten, streichen, pressen, abbilden“. Wer als Kind schon mit der Zeitung hantiert hat, weiß die Materialerfahrung zu schätzen. In den Händen dieser Kinder liegt die Zukunft der Zeitung.


Morgen

Der Herbst der Zeitungen verspricht bunte Blätter. Die Redaktionen sehen sich in Konkurrenz zum Internet und vergessen dabei zu oft, was die Qualität der Zeitung ausmacht: Man kann sie anfassen und nicht auswischen. Das gilt es herauszustellen und zu bewahren. Gerade sucht die Süddeutsche Zeitung den Königsweg, im Internet ihre Seriosität zu verspielen. Boulevardthemen und aberwitzig untertitelte Bildstrecken sind der krampfhafte Versuch, den ins Internet abgewanderten Lesern Zucker zu geben. Was ist die Folge für den arglosen Leser? Karies im Gehirn. Gut, das Bild ist gewagt, doch ich weiß nicht, wie der psychologische Fachausdruck für die schleichende Verblödung lautet, zu deren Förderer sich die Zeitungen nicht machen sollten, wenn sie noch einen goldenen medialen Oktober erleben wollen.

Zeitung-in-der-Sackgasse

(Alle Fotos: Trithemius 10/07)

Eva und Peter Brand (Hrsg.)
Zeitung in der Primarstufe
Aachen 2007
ISBN 978-3-89294-351-8
(ab Ende Oktober im Handel)

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