Abendbummel Online – Die 10. Kugel

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Es gibt ja auch Nudelzangen. Warum die Kellnerin in der Küche die Spaghetti lieber mit den Händen auf die Teller verteilt, weiß ich nicht. Man weiß ohnehin nicht, was so alles in den Küchen der Lokale geschieht. Allerdings saß ich so an der Theke, dass ich durch die offene Tür der Kellnerin auf die Finger sehen konnte.

Ich habe in Ruhe mein Kölsch getrunken und mir jede Arbeitsphase genau angesehen. Die Nudeln werden auf dem Teller verteilt, zwei-, dreimal greift sie noch in den Topf und dekoriert einige Spaghetti hinzu, dann der Griff unter die Anrichte, da kommt ein Plastikeimer hervor, aus dem sie die Soße für die Nudeln schöpft. Die Kellnerin war allerdings ein hübsches Weib, und auch die Küche war sauber.

Später ließ ich mir aus dieser Küche Ratatouille servieren. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich großen Hunger. Da war es mir egal, welche Mikroben an ihren Fingern siedelten und wieviele davon sie an mein Essen tat. Es kam ja sowieso noch in die Mikrowelle.

Einen Vergleich zwischen einer 3-Sterne-Küche und der Küche vom LAST EXIT habe ich schon. In der 3-Sterne-Küche hängen zum Beispiel Schilder, auf denen die exakten Garzeiten für die jeweiligen Gemüse vorgeschrieben sind. Kartoffeln werden auch mit der Hand geschält. Ich konnte bei dieser Übung nicht mitmachen, denn ich hatte mir vorher mit dem Frühstücksmesser in den Finger geschnitten.
Das geschah in Berlin.

Glücklicher Weise bekam ich zu meiner Ratatouille nur Löffel und Gabel. Bevor ich mich zum Essen an den Tisch setzte, hatte ich mit vier jungen Leuten an der Theke gesessen, drei Männern und einer Frau. Die vier lärmten miteinander, doch die beiden äußeren hatten sich gerade erst kennen gelernt, und irgendwann ging der Ruf hinüber: „Aha, auch HARTZ vier!“ Diese solidarische Vereinnahmung ins Prekariat war dem anderen ziemlich peinlich. Er war ein intelligent aussehender Mann, der sicher mehr kann, als nur an der Theke rumstehen.

Die Frau neben ihm
lachte verlegen. Später gewann sie „4 Euro für Zigaretten.“ Die Kellnerin hinter der Theke schaltete nämlich plötzlich die Musik aus, hielt einen Flaschenöffner vor den Mund wie ein Mikrophon und sagte:

„Liebe Gäste! Die heutige Weihnachtsfrage lautet:
Was brachten die Hl. Dreikönige?“

Verflixt, und ich kam nicht auf das dritte.
Da rief die Frau: „Weihrauch, Myrrhe und Gold!“

Gold? dachte ich. Die haben einem Säugling Gold geschenkt? Jedenfalls stieg die Kellnerin auf einen Stehtisch und riss die 10. der ehedem 24 Kugeln von der Decke herunter, stieg hinab und gab sie der Frau. Die kleine 10. Kugel war offenbar schwer zu öffnen. Die Frau mühte sich zuerst mit den Händen. Dann ließ sie sich aus der Küche ein großes Messer geben und versuchte, die Kugel aufzusägen. Der Hartz-IV-Empfänger sah interessiert dabei zu, wie sie sich mit dem Fleischermesser die Fingerkuppen rasierte, um an die 4 Euro Zigarettengeld zu kommen. Er sah zu und tat nichts.

Nach dem Essen dachte ich, dass es schrecklich sein muss, wenn man nirgendwo gebraucht wird. Irgendwann verlernt man dieses Gefühl offenbar ganz und steht einfach glotzend neben einer Frau, die zu schwach oder zu blau ist, eine versilberte Styropor-Kugel aufzudrehen.

War noch was?
Ach ja, ich habe sechs Kölsch getrunken.

Guten Abend

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