Nordwärts zwischen Pappelreihen (3)

=>=>=> Drei Etappen

Sag, was fällt denn da für ein komisches Zeug vom Himmel? Ach so, Regen. Wenn er dir nichts ausmacht, soll er mir auch recht sein. Wir müssen halt aufpassen, dass wir nicht regenblind vom Weg abkommen und eventuell gegebenfalls gegen Pappeln anrennen und dass wir nicht in Pfützen talpen. Was guckst du? Denkst du, das Wort gibt es nicht? Woher kenne ich es denn? Talpen ist möglicherweise Nettesheimer Platt, doch genau weiß ich nicht, von wo es mir zugeflogen ist. Komm mal fünf Cicero zu mir herüber und lour ens durch die Sträucher aufs Dorf. Der Flecken dort unten am glucksenden Gillbach ist eigentlich meine Heimat. Ich bin aber früh weggegangen. Mir wurde das Dorf zu eng. Das hatte auch etwas mit der Sprache zu tun. Ich konnte zwar Nettesheimer Platt, eine lokale Variante des Ripuarischen, nur die Art und Weise zu reden, wie es der Landmann tut, die beherrschte ich irgendwie nicht. Ein Großteil der Unterhaltung ist nämlich nicht Informationsaustausch, sondern „soziales Geräusch“ (Ruprecht Frieling). Dazu hat man auf dem Land einen vom Vater ererbten Sack fester Wendungen, aus dem man sich nach Bedarf bedient. Ich könnte dir jetzt einige Beispiele geben vom „Wie is et?“ „Joot!“, aber das hat ja schon alles Konrad Beikircher erzählt. Irgendwie seltsam, dass ein Südtiroler herkommen muss und unseren Dialekt erklären.

Also, meine Oma erzählte gern die Geschichte vom neuen Nachbarn, der sich offenbar mit den sozialen Geräuschen noch weniger auskannte als viel später ich. Er klingelte am Weihnachtsmorgen, und wie meine Oma öffnet, das sagt er: „Guten Morgen, Frau Kramer, ich wollte eben gratulieren!“ Und dann drückt er meiner erstaunten Oma die Hand und sagt: „Herzlichen Glückwunsch zu Weihnachten!“ Dabei hieß meine Oma nicht mal Maria, sondern Katharina.

Man muss eben wissen, was wie gesagt wird, wenn ein soziales Geräusch ertragreich sein soll. Natürlich weiß ich, dass man zu Weihnachten nicht gratuliert, sondern „Guten Rutsch“ sagt, hehe. Doch was erwiderst du auf eine Neckrede, wenn du zum Beispiel die Dorfkneipe betrittst und einer von der Theke sagt: „Do kütt dä och noch!“?

Bist du eigentlich schlagfertig? Frauen sind es eher als Männer. Sie haben schnellere Zungen. Mir fehlt das Gutgegeben immer eine halbe Stunde später ein. Darum komme ich auch nie gegen Frau Doktor Nettesheim an. Sie ist ja angeblich mit Agrippa verwandt, und der war ein guter Rhetoriker. Schließlich hat er eine als Hexe angeklagte Frau erfolgreich vor der Inquisition verteidigt. Ihn hat’s allerdings früh in die Welt hinausgetrieben – vielleicht konnte er das stereotype Gerede im Rheinland auch nicht mehr ertragen. Früher muss das ganze Rheinland von sozialem Geräusch geklungen haben. Ich glaube, die meisten Rheinländer schätzen das Herz höher als den Verstand.

Unter seiner fröhlichen Schale hat der katholische Rheinländer etwas Wildes, und bricht es sich Bahn, dann treibt es die seltsamsten Blüten. Darum soll zur Sicherheit immer alles seinen gewohnten Gang gehen, was ein gewisses Maß an geistiger Trägheit und eben das Reden in Floskeln erforderlich macht.

Willst du einmal erleben, wie es in meiner Kindheit war? Hier auf dem Bahndamm ist es sowieso zu nass. Da tauchen wir lieber in die heimelige Vergangenheit.

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Meine Oma Katharina hat am 25. November Namenstag. Den feierte sie stets an einem Samstag im Dezember, und zwar im „guten Zimmer“, das nur für besondere Anlässe genutzt wurde. Da war kaum Platz genug für die Großfamilie, – Onkel, Tanten, Vettern und Kusinen. Doch diese drangvolle Enge hatte etwas ungemein Behütendes. Einmal fiel Omas Namenstagsfeier genau auf Nikolaus. Man saß bei Kaffee und Kuchen, später bei Heringssalat, Kartoffelsalat und Schnittchen, es wurde geschmaust und getrunken. Die Luft war voller Zigarrenrauch, Essensdüften und dem Dunst von Körnchen. Das Stimmengewirr, ein einziger Chor des sozialen Geräuschs. Hatte einer eine gute Geschichte erzählt, dann hieben meine Onkel ihre schweren Männerhände auf den weiß gedeckten Tisch, dass die Schnapsgläschen hüpften. Nur Opa saß völlig unbeteiligt in seinem Lehnstuhl in der Ecke und trug zur fröhlichen Stimmung den Zigarrenrauch bei.

Mit einem Mal sagt Oma, sie müsse jetzt die Fensterläden schließen und geht hinaus auf die Straße. Alle verstummen, und in der plötzlichen Stille ist zu hören, wie Oma mit gespieltem Erstaunen ruft: „Guten Abend, Herr Nikolaus!“ Und schon bringt sie einen späten Besucher ins gute Zimmer.

Der Nikolaus trägt einen mächtigen weißen Bart über dem Bischofsgewand, hält ein großes Buch mit Goldschnitt unterm Arm und eine Rute in der weiß behandschuhten Rechten. Das gebietet Respekt. Da hilft es nichts, dass die Mitra auf seinem Kopf verdächtig einem Kaffeewärmer ähnelt. Wir Kinder erstarren, allerdings nicht seinetwegen. Zu seinen Stiefeln kriechend drängt sich ein kohlschwarzer Unhold ins Zimmer, ein Wesen in Ketten, gleich einem Höllenhund. Hans Muff faucht wüst in die Runde, und es wäre gewiss um mein klopfendes Herz geschehen, spräche St. Nikolaus nicht ein Machtwort, das da lautet: „Still, Hans Muff!“ Da kriecht der schwarze Unhold untern ausgezogenen Tisch, weshalb alle die Füße zurückziehen.

Ein ums andere Kind wird vor den Nikolaus gezerrt und muss sich vor allen Ohren die guten und schlechten Taten anhören, die der Nikolaus aus dem Buche liest. Und bei jeder verlesenen Übeltat schießt Hans Muff kettenrasselnd unter dem Tisch hervor und grabscht nach zitternden Beinchen. „Hier steht, dass du deinen Teller nie leer essen willst“, sagt der Nikolaus mir streng, worauf sich der Hans Muff kaum noch beruhigen will. Da gelobe ich, auf immer alle meine Teller leer zu essen, und an dieses Versprechen bin ich jetzt mein Leben lang gebunden. Solche Erfahrungen brennen sich ein in eine Kinderseele. Das wirst du nicht mehr los. Ja, der Katholik wird mit Angst und Drohungen fromm gemacht. Es gab im Dorf in meiner Kindheit eine geschiedene Frau. Immer wenn ich zur sonntäglichen Andacht zur Kirche lief, sah ich zu ihrem Fenster hinauf und dachte: Die arme Frau, muss ihr ganzes Leben leben und weiß doch, dass sie nie in den Himmel kommt.

Komm, wir bummeln noch ein bisschen weiter über den Bahndamm. Wir sind ja nicht aus Zucker. Der Himmel klart gleich auf oder nicht, das kannst du mir glauben. Soll ich dir noch erzählen, warum ich ein Jahr später den Glauben an den Nikolaus verlor?

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Kannst du dir vorstellen wie es ist im Kindergarten bei gestrengen Nonnen? Natürlich bestellten auch sie den Nikolaus mit Knecht Ruprecht ein, auf dass der heilige Mann unseren verstockten Sünderherzen die Leviten lese. Wir sahen den beiden froh hinterher, denn solche Herrschaften sieht man lieber von hinten. Am Törchen unten warteten einige Schuljungen. Der dicke Kalckmann war auch dabei. Als der Nikolaus sich ihnen näherte, begannen sie zu feixen. Da klirrte Hans Muff mit der Kette und sprang den dicken Kalckmann an. Der hielt stand, nahm Hans Muff einfach in den Schwitzkasten und rang ihn zu Boden. Dabei zog er ihm auch seine schwarzen Pluten auseinander, und zum Vorschein kam eine Mönchskutte. Da wusste ich, es ist alles nur Mummenschanz – und das nährte den Verdacht, der ganze Glaube sei Mummenschanz. „Großes Kino“, wie man neudeutsch sagt, und tritt sogar der Papst auf, dann ist es: „Gaaanz großes Kino!“

Dort oben im Himmel, man möchte gern glauben, dass da ein freundlicher Mann mit langem Bart liebevoll auf seine Schöpfung schaut. Da hat er heute schlechte Sicht, wie du siehst. Der Himmel ist nach wie vor verhangen, und es regnet junge Meteorologen.

Tretet Dada bei!

Wird fortgesetzt

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