Die letzte Freinacht, eine Lesung – Folge 8

Folge 8
Gesellschaft der Denkenden Männer

Es ist hübsch in der Hölle. All das Zwacken und Verstümmeln, Reißen und Stauchen – danke dass du mir so freundlich die Tür aufgehalten hast. Mal sehen, was es sonst noch gibt. Weiter hinten sollen sie sich vorzüglich auf das Absägen von Armen und Beinen verstehen. Nur den finalen Stoß ins Herz, den beherrschen sie nicht. Dafür sind sie nicht zuständig. Freilich, sie können es herausreißen und darauf herumtreten, bis es unter ihren Sohlen quietscht. Ich werde gelegentlich Bericht geben, wenn ich auf der Streckbank liege.

Welcher Wahnsinnige hat der digitalen Armbanduhr ein Ticken mitgegeben? Ich will es nicht. Ich will nicht hören, wenn sich der Sekundenzeiger durch die Ewigkeit tickt. Komm her, Uhr, ich reiße dir das Leben raus!

Gott! Hörst du! Was will ich mit der Zeit, die du mir gibst? Du kannst sie haben, ich habe keine Verwendung für sie. Wirf mich zu Boden und lass mich liegen, bis ich sie endlich berühren kann!

Es ist Sucht, da ist etwas in mir, das all die Jahre geschlummert hat. Nichts wusste ich davon, ich Tropf. Weiß der Mensch, welche Zeitbombe in ihm tickt? Du lebst ein beschauliches Leben, du hast Termine für ein ganzes Jahr im Voraus im Kalender, stehst morgens auf, setzt die Füße auf den Boden wie jeden Tag, den Rechten zuerst, weil du dir ein bisschen Aberglauben gestattest, schon allein, um dem scheißlangweiligen Alltag den Anflug eines Kribbeln zu geben. Was liegt heute an? Ach dies und das. Es ist egal, ob du das weiße oder blaue Hemd anziehst, dein Leben ist voller Entscheidungen, die den Ablauf des Tages um keinen Deut verändern. Das weißt du, es ist deine Erfahrung von Jahren.

Natürlich sendet dir das Schicksal keine Boten. Da steht morgens keiner auf deiner Matte und liest von seinem Notizblock ab, was dir an just diesem Tag blüht und dein Leben aus allen Fugen reißen wird. Doch weil du ein Mensch bist, einer von der Gattung mit Horror vacui, ein Mensch, der nicht aushalten kann, dass im Leben nicht Sinn ist, sondern Leere, darum wirst du im Rückblick auf die Ereignisse Botschaften finden. Da steht der unsympathische Besserwisser in dir und zeigt drauf, zeigt dir, welche Winzigkeit dich gewarnt hat. Lass dir von dem großen Märchenerzähler was vormachen, so geht es am Leichtesten. Also, dann höre ich auf den Korinthenkacker und erinnere warnende Botschaften des Schicksals.

Da ist ein Stecknagel tief in meinem Hirn, und um den Stecknagelkopf kreist mein Denken. Das ist mal anders gewesen, in der Zeit der Beschaulichkeit. Ich durchstreifte die Bibliotheksregale, zog mal hier, mal da ein Buch heraus, und egal ob der letzte Aspekt einer Randerscheinung der Gesellschaft darin abgehandelt war, – es war immer noch ein Grund zu versinken, Picknick für Kopfreisen.

Da war ein Jahrbuch eines ethnologischen Vereins. Ich weiß noch, wie ich vor dem Regal stand, das Buch aufschlug und einen Bericht fand über eine Gesellschaft aus dem 19. Jahrhundert, die sich „Gesellschaft der Denkenden Männer“ nannte. Und der besserwisserische Korinthenkacker in mir weiß auch noch, was der Mann, der ich damals war, sich dachte:

„Wenn du dich auf diese Frau einlässt, wirst du die Gemeinschaft der denkenden Männer bald verlassen.“

Ja, das fand er witzig, so witzig, dass er es ihr in einem Brief schrieb, wie ihn verliebte Idioten schreiben.

Den Kreisel in meinem Kopf werde ich nicht los, ich stehe damit auf, ich lege mich abends mit ihm hin. Mal abgesehen davon, dass der Kreisel ständig Stress- und Schmerzbotenstoffe aktiviert, die mir in Wellen durch den Körper gepumpt werden, abgesehen davon, ist es die schrecklichste Ödnis. Kolossale Langeweile. Dein Körper ist in Aufruhr, dein Puls jagt, der Blutdruck macht dir einen Spangenhals, und gleichzeitig gehst du kaputt vor Langeweile. Warum bin ich nicht mehr bei mir? Wo ist der Mann, der ich gestern war? Erinnerungsfetzen. Doch kommt her, ihr Fetzen, ich schreibe euch auf!

Folge 9

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