Nachtschwärmer Online – Hand werfen

Fünf Etappen

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Hallo, da bist du ja! Dann kann es gleich losgehen. Das hier ist übrigens der alte Bahnhof von Raeren. Von hier führt die Strecke durch die Eifel ins Hohe Venn. Ich weiß nicht, wie weit sie passierbar ist, denn sie wurde vor einiger Zeit stillgelegt. Es hat den Vorteil, dass wir nicht auf andere Züge achten müssen, und Tunnel gibt es unterwegs auch nicht. Allerdings fahren wir vorerst ständig durch den Wald. Sag, ist schon Frühling in eurer Gegend? Hier sind wir ungefähr auf 320 Meter über dem Meeresspiegel, also gut einhundert Meter höher als in Aachen. Früher bin ich oft mit dem Rennrad ins Venn gefahren, und du kannst davon ausgehen, dass die Temperatur je einhundert Meter ein Grad niedriger liegt.
Zum Glück hast du dich warm angezogen. Man nennt es Frühling, doch die Wärme muss man selbst mitbringen.
Du hast Recht, das Bahnhofsgebäude sieht aus wie aus den 50er Jahren, so stellst du es dir vor, denn in den 50ern schwammst du noch irgendwo auf dem Mond rum. Haben wir eigentlich einen Mond? Zu diesig? Ja, da kann man nichts machen.
Dort drüben steht die Draisine. Wer zuerst da ist, darf 10 Euro behalten. Ja, ich weiß, es war ein müder Witz, und natürlich bist du mal wieder schneller als ich.

O Gott, wie fährt man das Ding denn? Eventuell müssen wir schieben. Nein, war nur Spaß. Sitzt du bequem? Kann es losgehen? Zuerst müssen wir uns über die Weichen in die Strecke einfädeln. Achtung, wir fahren!

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Eisen auf Eisen rollt sich ab! Tatsächlich, sie rollt! Jetzt kannst du dich entspannen.
Übrigens hat man diese Strecke vor 15 Jahren noch einmal in Betrieb genommen. Es gab einen Eisenbahnverein, der an den Wochenenden touristische Fahrten angeboten hat. Die EU hat es damals gefördert. Denn man musste nicht nur die Züge und die Waggons restaurieren, die Bahnstrecke war auch zum Teil zugewachsen.

Achtung, die Weichen, halt dich fest. Was, an mir? Pass auf, ich hab schon dieses frühlingsbedingte hormonelle Gefühlschaos in mir. Brauchst mich nicht zu boxen. Ich hab dich doch nur gewarnt.

Tock tock tock – Gut, wir sind unterwegs. Ja, jetzt bekommen wir Fahrtwind.

Übrigens ist damals zur Wiedereröffnung der Strecke eigens der Regierungspräsident von Köln, Herr Antwerpes, mit Frau und Kind angereist, im „Klingenden Rheinländer“. Ich hab mal einen Film gesehen, in dem behauptet wurde, der Name „Antwerpen“ bedeute eigentlich „Hand werfen“. Wer nämlich als Schiffer den Antwerpenern keinen Zoll bezahlen wollte, dem schlugen sie die Hand ab und warfen sie ins Wasser. Ich glaube aber nicht, dass es stimmt.

Ja, hier wird es düster. Kannst dich ja anlehnen.

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Hab mich eben versprochen: es waren die historischen 1.Klasse-Waggons des Rheingold-Express’, in denen Antwerpes und Gefolge hier auf der Strecke gefahren sind. Seine Frau hat mich damals im Pressezelt streng gemustert, weil ich meinem Sohn erklärt habe, warum der Raerener Bürgermeister in seiner Rede mir und mich verwechselte. Die deutschsprachigen Belgier habe es nicht leicht. Sie müssen Deutsch und Französisch können, und Deutsch wird eher wie eine Mundart behandelt.

Nach dem Rheingold-Express fuhr der Zug für Leute wie mich, und irgendwo im Venn bei Weywertz trafen sich die beiden Zügen, Rheingold talwärts, Plebs bergwärts. Und die Eisenbahnverrückten aus beiden Zügen filmten den jeweils anderen Zug. Das sah ziemlich witzig aus, wie sie sich aus den Fenstern heraus gegenseitig die Kameras ins Gesicht gehalten haben.

Warte mal, ich muss Tempo machen. Du hast keine Angst, wegen der Finsternis ringsum?
Eisen auf Eisen rollt sich ab – tock tock.

Licht sehen wir so bald keines mehr. Jetzt geht es zwar Richtung Eupen, doch es täuscht – wir fahren eine Schleife. Die Strecke windet sich in Schleifen hinauf, und gleich kommen wir auch durch Deutschland. Der Gleiskörper jedoch bleibt belgisches Hoheitsgebiet.

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Stell dir vor, an jedem Haltepunkt an der Strecke warteten Musikkapellen, für die hohen Damen und Herren im Rheingold-Express. Sie bliesen natürlich schon in ihr Blech und hauten auf die Pauke, wenn der Zug einlief, so dass der Herr Regierungspräsident und die belgischen Honoratioren eigentlich das Gefühl haben mussten, dass immerzu und überall die Musik spielt. Das ist irgendwie eine komische Weise, die Welt zu erleben. Als Staatsgast in fernen Ländern wirst du auch so behandelt. Du denkst, die Leute sind überall auf der Welt gut gelaunt, schwenken Fähnchen und blasen Tuba. Wie sollst du dann ein Gefühl für Realität bekommen?

Was meinst du, gibt es hier wildes Getier? Weiter oben im Venn schwirren die Geister der im Moor Versunkenen herum, doch so weit fahren wir zum Glück nicht. Ich bin ja eigentlich Rationalist, doch ich kann mich auch in Phantasien hineinsteigern und mir vorstellen, da wankt jetzt ein ruheloser Geist aus dem düsteren Unterholz auf die Draisine zu und jammert uns um Erlösung an.

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Weg da, wir geben nix!

Nein, da war niemand, hab’ nur Spaß gemacht. Ich weiß eben nur nicht, was mir da dauernd so nasskalt in den Nacken greift. Ach so, es tropft hier von den Bäumen, die über dem Gleiskörper hängen.

Kennst du eigentlich die Erzählung von Slawomir Mrozek, Der Dienstmann? Da kommt ein Fahrgast auf einem einsamen Bahnhof an, hat zwei schwere Koffer und muss noch weit ins Land hinaus. Auf dem Bahnsteig wartet ein alter Dienstmann, der sich anbietet, dem Reisenden das Gepäck zu tragen. Unterwegs durch die Felder fängt der Dienstmann an zu jammern und erzählt, wie schlecht es ihm geht und wie weh seine gichtigen Knochen ihm tun. Der Reisende bekommt Mitleid und nimmt dem Dienstmann einen Koffer ab. Doch der gibt keine Ruhe, bis der Reisende auch den zweiten Koffer trägt. Jetzt trottet der Dienstmann neben ihm her und quengelt immer noch, denn die Füße tun ihm auch weh. Am Ende nimmt der Reisende zu den Koffern den Dienstmann Huckepack. Der ist plötzlich gar nicht mehr müde, sondern packt den Reisenden bei den Ohren und dirigiert ihn in die schreckliche Einöde hinaus.

Sich so einen Hockauf einzufangen und ihn dann nicht mehr los zu werden, davor habe ich auch Angst, verstehst du das? Wenn sich einer aus einem Baum runterfallen lässt…
Na, dann lieber auf meinen Buckel als auf deinen schönen Nacken.

Ach, ein Glück, da vorne ist Licht! Wir queren gleich die Himmelsleiter. So heißt diese Straße im Volksmund. Sie führt von Aachen nach Roetgen. Hier halten wir für heute.
Wenn du magst, geht es morgen weiter, und dann bin ich gewiss auch schon wieder geschickter mit der Draisine.

Gute Nacht, meine Liebe

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