Im Hörsaal mit Dr. Li – Bericht über ein Gesamtkunstwerk

Ganz selten hört man von deutschen Sinologen, aber nie zuvor habe ich von einem chinesischen Germanisten gehört. Jetzt kenne ich einen, Dr. Li, was schöner klingt als Dr. No etwa. Prof. Dr. phil. habil. Wenchao Li ist Leibniz-Stiftungsprofessor an der Leibniz Universität Hannover. Er ist aber auch Ehrendirektor der Leibniz-Forschungsstelle der Universität Wuhan in China. Da muss es also noch mehr chinesische Germanisten geben. Unglaublich. Aber in so einem großen Land können nicht nur Reissäcke umfallen, es kann auch passieren, dass hie und dort ein Chinese aufwächst und aus irgendwelchen Gründen sich für die deutsche Sprache, Literatur, Philosophie und Geisteskultur begeistert. Eigentlich habe ich selten jemanden erlebt, der so begeistert wirkt von seinem Fach wie Dr. Li.

Sein Deutsch ist grammatisch perfekt und so geläufig, wie es nur sein kann. Trotzdem verstehe ich ihn schlecht, wenn er unten im Hörsaal steht und den Dozenten der Vorlesung vorstellt. Seine Sprechwerkzeuge sind nicht für deutsche Laute gemacht, so wie meine nicht für Kantonesisch. Aber auch das gehört zu dem Gesamtkunstwerk, das ich in den letzten Wochen mittwochs genießen darf. Mein junger Freund Shhhhh ist Literaturstudent und schleppt mich manchmal mit zu einer Ringvorlesung.

Beeindruckend ist die Freundlichkeit, mit der Dr. Li die jeweiligen Dozenten vorstellt und ihre Bedeutung für die Wissenschaft heraushebt. Im Hörsaal sitzen nur wenige Studenten. Die meisten sind Fachkollegen, die die Bedeutung zu würdigen wissen. Wer sich täglich mit weltbewegenden Fragen beschäftigt, mit der lauten und zuweilen schrillen, uneigentlichen medialen Gegenwart, der findet hier die Gegenwelt, ein Universum von Wissen über kleine Aspekte vergangener Literatur und Geistesgeschichte. Da wird akribisch jeder Brief der alten Dichter und Denker ausgewertet, interpretiert und in Zusammenhänge gestellt, neue, bislang unbeachtete Bezüge tun sich auf, werden diskutiert und gewichtet.

Was aus der Ferne belanglos erscheinen mag, zeigt sich aus der Nähe als das brennende Interesse am Authentischen. Es geht um Hingabe und mithin um Lebenskunst. Aber diese Lebenskunst ist nicht elitär, denn die Tür zum prachtvollen Universitätsgebäude und darin zum wunderschönen alten Hörsaal steht jedem offen. Es ist ein Genuss, in diesen dunkel gebeizten Bänken zu sitzen, den Pultdeckel herunterzuklappen und gut aufzumerken, um den lächelnden Dr. Li zu verstehen, wie er sich vor Begeisterung in seinem geistigen Universum zu verlieren droht, bevor er dem hoch gelobten Dozenten die Bühne freigibt. Dann die Spannung, was der Dozent vortragen wird und vor allem wie? Dass der Schleimer aus dem Kundenlautsprecher im Supermarkt besser, sauberer und eindrucksvoller über das Erbsenkonservensparangebot spricht als ein Wissenschaftler über die Herausbildung des deutschen Kulturbewusstseins, ist surreal, aber auch bezeichnend für den geistigen Zustand unserer Gesellschaft.

Für mich zählt noch etwas anderes zum Gesamtkunstwerk, vorher mit Shhhhh im Biergarten zu sitzen, zu plaudern und auf dem Heimweg durch den Georgengarten und über die Leine hinweg die Eindrücke auszutauschen, manchmal auch beim Bier in einer Lindener Kneipe, woher dieser und jener Bericht stammen.

Dieser Beitrag wurde unter Kopfkino veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

7 Kommentare zu Im Hörsaal mit Dr. Li – Bericht über ein Gesamtkunstwerk

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.