Abendbummel online – Die unglaubliche Limmerstraße (1)

Wenn wir über die Limmerstraße gehen, wird’s ein bisschen bunter als sonst wo. Jedenfalls habe ich eine derartige Straße noch in keiner anderen Stadt gefunden. Sie hat eine wilde Schönheit, denn sie ist ein bisschen rottig. Ein Literaturstudent, den ich kenne, gliedert die Limmerstraße in drei Teile. Das erste Stück ist überwiegend in türkischer Hand, dann mischt es sich, und das letzte Drittel ist bestimmt von Studenten, jungen Familien, Arbeitern, Punkern, Arbeitslosen und Yuppies. Aber eigentlich ist die Einteilung nur bedingt richtig, denn ständig mischen sich alle. Man flaniert nämlich gerne die Limmerstraße rauf und runter, kann hier auch alles einkaufen, was man so braucht, selbst was man überhaupt nicht braucht. Mein rappender Biobäcker sagt, die Leute würden ihre individuellen Outfits auf der Limmerstraße austesten. Und wenn sie hier ankommen, können sie damit auch woanders bestehen. 80 Nationen sollen rund um die Limmerstraße leben, hat mir ein freundlicher Migrant erzählt. Den geringsten Anteil stellen die Nepalesen, die sind nur zu zweit. Es fahren hier keine Autos lang, aber die Straßenbahn der Linie 10 und Unmengen an Radfahrern jagen über das Kopfsteinplaster. Und so viele Menschen, so viele Fahrradmodelle. Wenn die meisten Geschäfte geschlossen haben, kehrt noch lange nicht Ruhe ein, lediglich die Kinder verschwinden von der Straße. Stattdessen kommen die älteren Geschwister in manierlichen Gruppen und tragen offene Bierflaschen in den Händen. Es wird unglaublich viel ambulant gesoffen auf der Limmerstraße, bis tief in die Nacht hinein. Nur wenige werden laut. Eigentlich geht es meistens manierlich zu auf der Limmer.

Einmal, so gegen 12 Uhr nachts kommt ein Anwohner aus dem Nebenhaus der Biobäckerei, Trainingshose, weißes T-Shirt um den Bauch. Rennt stracks über die Straße zu den Typen auf einer Bank, von denen einer nur eine Lautstärke kennt: Krakeelen. Der Anwohner hält ein Mobiltelefon in der Hand, dessen Display grün leuchtet. Er hat wohl die Nummer der Polizei gewählt und braucht nur noch auf Verbinden zu drücken. Das Handy ist für ihn die Rückversicherung und gleichzeitig eine Waffe gegen den Krakeeler.

Manche beklagen, es würde sich soviel ins Digitale verflüchtigen. Aber früher wäre das nicht gegangen. Das Handy ist einfach bequemer als eine untern den Arm geklemmte Polizei-Notrufsäule. Die wäre freilich eindrucksvoller, aber man könnte damit höchstens den überlauten Kerl erschlagen. Doch so etwas gehört sich nicht auf der Limmerstraße. Er begegnet also dem Schreier mit verbaler Gegengewalt. Da ist der sogleich einsichtig und senkt demütig den Kopf. Der Anwohner wendet sich erleichtert ab, kommt wieder über die Straße und klemmt sich an das Ende Reihe der dort auf den Fensterbänken und Treppen sitzenden Müßiggänger … äh … Müßigsitzer und sagt, er habe leider die Wohnung zur Straße hin und könne im Sommer wegen des Lärms auf der Limmer nie das Fenster öffnen. Aber der Kerl da drüben sei besonders übel, weil der immer so rumbrülle. Der guckt wie angesprochen herüber und brüllt: „Ich mache das nicht mehr! Jetzt bin ich ganz leise!“ Da gingen überall die Fenster auf und die Anwohner warfen ihre Schuhe auf die Straße.


Na, das letzte glaubst du nicht. Ich auch nicht. Das waren wieder die außerirdischen Humantechniker schuld. Die haben doch meine Schreibhand so verdrahtet, dass ich immer lügen muss. Glaubst du mir denn die Sache mit dem Tannenbaum? Mitten im Hochsommer war das. Da sitze ich so gegen elf Uhr abends auf der Fensterbank der Biobäckerei und trinke Flaschenbier. Plötzlich kommt einer mit seinem Fahrrad an und trägt in der Hand einen Weihnachtsbaum. Daran baumeln kleine in Silberfolie eingepackte Schachteln, denen man ansieht, dass nichts drin ist. Er setzt sich auf eine Bank schräg gegenüber vor die türkische Dönerbude und stellt den Weihnachtsbaum vor sich auf den Tisch. Das gibt einiges Hallo durch die offene Dönerbudentür und neugierige Fragen. Ich hatte sowieso gehen wollen, und wie ich an ihm vorbeikomme, sage ich: „Da fehlt Lametta.“ Sagt er: „Nein, Geschenke! Geschenke! Die sollst du ja dran hängen.“ Aber ich hatte natürlich keine bei mir. Vermutlich muss er seine Idee, im Sommer an Weihnachtsgeschenke zu kommen, ein bisschen überarbeiten. Sonst gibts nur einen Döner zum Fest. Rund um die Limmerstraße ist man eigentlich freigiebig. Aus einer offenen Haustür trägt ein junges Paar noch gut aussehende Möbelstücke. Und an jedes Teil haben sie einen DIN-A4-Zettel geklebt, worauf säuberlich mit der Hand geschrieben steht: „Zu verschenken“.

Das ist hier der Kötnerholzweg. Er führt leicht bergan, aber wir müssen hinauf. Meine Straße liegt ein bisschen schon am Hang des Lindener Bergs. Den Namen „Kötnerholzweg“ habe ich erstmals von einer Frau gehört, die ich im Rathaus traf und die mich zu kennen glaubte, sich dann als Pressesprecherin der Linken vorstellte. Sie gab mir ein Interview, aber das passte hinten raus nicht auf meine Speicherkarte, also, bevor sie sagen konnte, was ich von ihr wissen wollte. Sie kam vom Hölzchen aufs Stöckchen, zwischendurch hatte sie dann vergessen, was ich sie gefragt hatte. Darüber werden wir nie mehr was erfahren. Aber sehenswert ist es allemal. Man findet es in einem Video, das Teppichhausvolontär Hanno P. Schmock gemacht hat. Puh, gleich sind wir oben. Und beim nächsten Bummel, also runter zur Limmerstraße, erzähle ich die Geschichte, warum ein Mann, den ich mal kannte, einen wirklich langen Bart hatte.

Guten Abend

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