Verschwunden im Orkus der Ignoranz – Ein Bummel über den Lindener Berg und zurück

Hässliche Orte sind unter Autobahnbrücken. Über deinem Kopf braust Verkehr, und du fragst dich, welche Idioten es am Sonntagnachmittag schon wieder so eilig haben, so unbedingt von hier nach da fahren müssen. Können sie nicht einmal wenigstens da bleiben, wo sie sind? Was ist das überhaupt für eine Art, den Mitmenschen rücksichtslos durch die Ohren zu brausen? Ich tät mich schämen. Jedenfalls bieten sie unter der Autobahnbrücke Weihnachtsbäume an und verkauft auch am 3. Adventssonntag. Ich gehe vorbei, obwohl ich in diesem Jahr einen brauche, einen kleinen nur, denn ich werde Weihnachten lieben Besuch haben. Ganz am Ende der Einfriedung sehe ich einen, der mir zusagt, ist wohl ne Tanne. Ich kaufe den Baum nicht, obwohl ich etwas weiß, was jeder Weihnachtsbaumkäufer wohl wissen sollte: „Die Fichte sticht – die Tanne nicht.“ Die arme Tanne! Das konnte die Evolution nicht voraussehen, dass sie mal vom Menschen abgehackt werden würde, weil sie nicht sticht. Von Mama Evolution im Stich gelassen, ist die Tanne hoffnungsfroh gen Himmel gewachsen, bevor man Axt und Säge an sie legte, und das bisschen Rest Leben, das noch in ihr steckt, ist schon ganz ramdösig vom Autolärm. Eine ramdösige Tanne kaufe ich nicht. Ich bin doch sowieso nicht in Kauflaune, weil Sonntag ist.

Ich gehe durch den Grünstreifen parallel zum Westschnellweg bergauf, den Rest vom Ausläufer des Lindener Bergs, der nicht für den Bau des Schnellwegs abgegraben wurde. In meinem Kopf sind nicht viele Gedanken, beinah gar keine wie so oft. Ich will nur über den Lindener Berg gehen. Weil Sonntag ist. Auf dem Fußweg liegt ein Papierstreifen, fast wie eine Kaugummipapierhülle. Doch das Format ist schöner. Jetzt sehe ich, dass es ein Fahrschein der Üstra ist. Plötzlich überkommt mich die unbändige Lust, auch einen Fahrschein im Längsweg so zu falten, dass diese angenehme Format entsteht. Manche entwickeln ja bei ihren Spaziergängen ganze philosophische Systeme. Aber ich nicht. In meinen Kopf passen heute nur so kleine Dinge wie ein Üstra-Fahrschein, und dann muss er noch längs gefaltet sein, damit er glatt hineingeht. Ich nehme mir jedenfalls vor, bald mal wieder mit der Bahn zu fahren, damit ich den Fahrschein so und nicht anders falten kann.

Geht es noch banaler? Ja. Wo früher eine Kneipe war, von der ich mich immer gefragt hab, wer da wohl reingeht, ist jetzt keine Kneipe mehr. Vermutlich ist keiner da je reingegangen, nicht mal ich habs getan. Jetzt ist es zu spät. Ich bedauere mein Versäumnis. Ein einsamer Wirt hätte hinter der Theke gestanden und sich am Zapfhahn festgehalten. Und ich hätte gegrüßt und gesagt: „Ich wollte nur mal sehen, wer hier so hineingeht.“
„Na, du Tünnes“, hätte der Wirt gesagt und sardonisch gelächelt, ja fast boshaft die gelben Zähne gebleckt und mir ein Bier gezupft aus einer Leitung, durch die schon Äonen kein Bier mehr geflossen ist, so dass es zuerst ordentlich Blupp gemacht hätte, wenn der Klumpen aus Pilzen und Bakterien, der die Leitung verstopfte, dieser Schleimpropf in mein Bierglas…. wieso überhaupt? Ich will doch gar kein Bier und wo die Kneipe war, ist jetzt die Begegnungsstätte der Heimkehr-Wohnbaugenossenschaft In der Glastür hängt ein Schreiben DIN-A4. Ich steige die Treppe hinauf, um es zu lesen. Unter dem Briefkopf und dem Logo der Wohnbaugenossenschaft Heimkehr steht in 20 Punkt fetter Times: „Aushang“ Das ist ja toll! Das ist ja allerliebst! Gut zu wissen, dass der Aushang auch als Aushang gemeint ist und nicht etwa als geheimer Heimkehr-Begegnungsstätten-Klosettreinigungsplan, der versehentlich in der Tür ausgehängt wurde.

Da wo es längs dem Bergfriedhof steil hinauf geht auf den Lindener Berg, hängen am kahlen Gesträuch noch weiße Knallerbsen. Ich sammle eine Handvoll ab und werfe sie den Weg hoch. Bevor sie kehrt machen, verharren sie einen Moment, als müssten sie kurz überlegen, ob sie weiter bergauf rollen wollten oder nicht. In kollektiver Eintracht entscheiden sie sich umzukehren und mir todesmutig entgegenzurollen. Sie haben den Schutz des Schwarms. Bevor ich mich richtig entscheiden kann, welche Knallerbse ich zermantschen will, sind alle vorbei und verschwinden hinter mir im Orkus der Nichtbeachtung und heiteren Ignoranz. Dieser Orkus hat mich mein Leben lang begleitet, hängt hinten an mir wie eine riesige graue Blase, die sich unablässig mit allem füllt, was ich nicht beachte. Vielleicht ist’s meine Bestimmung, meine einzige wichtige Lebensleistung, diesen gefräßigen Kohlensack aufzufüllen. In diesen Sack stecke ich heute auch den Weihnachtsmarkt oben nah der Kuppe beim Lindener Turm, der mal eine Mühle war und jetzt ein Lokal beherbergt. Ich gehe vorbei und wieder hinab.

Eine Völkerwanderung kommt mir entgegen, Paare und Familienverbände vom Opa im selbstfahrenden Rollstuhl bis zum frohen Kind. Paar schwangere Frauen schieben auch vorbei. Wie ich den Berg runtergehe, landen sie alle im Kohlensack. Wir gehen jetzt schneller, denn der ignorante Sack schiebt, über die Kreuzung und biegen nach links in die Klewerstraße mit ihren schönen Gründerzeithäusern. Da ist auf der Ecke ein ehemaliges Ladenlokal jetzt ein „Kulturkiosk“. Gerade wie ich am Schaufenster vorbeikomme, geht Licht, und im Augenblick öffnet sich eine Tür, wo ich nicht sehe aber höre, wie eine Frau ruft: „Kinder kommt alle zum Vorlesen!“ Da ist kein Kind weit und breit. Doch! Ein klein Mädchen kommt aus dem Kulturkiosk die Treppe der Haustür hinab mir entgegen, beugt sich weit vor, indem es den Handlauf mit beiden Händen hält und sagt: „Die Vorlesung fängt an. Willst du nicht hereinkommen?“ „Eigentlich will ich nach Hause gehen. Ich bin ja kein Kind.“ „Das ist doch egal. Du kannst ruhig zuhören. Es gibt auch Waffeln.“ Wer steckt schon kaltschnäuzig ein Kleinmädchen innen Kohlensack. Ich nicht. „Na, gut. Wenn du mich so freundlich einlädst.“ Ich gehe rein.

Da sitzt im Sessel ein junger Mann vor einem dunklen Vorhang mit zwei Sternen drauf, auf dem Schoß ein Buch und ruft: „Hurra, wir haben einen Gast!“ Und auch eine Frau mit Stiefeln an den Füßen, seine Mutter wohl, geht umher und freut sich über mein Gastsein. Sie gießt mir Tee ein aus einer hübschen weißen Kanne, dass ich gleich denke, so eine will ich auch. Die krieg ich wohl nur auf dem Flohmarkt, also die Kanne, nicht die Frau. Derweil das Kleinmädchen auf dem Vorleser rumturnt, fängt er an zu lesen: „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ Ich ziehe den Mantel aus und mache es mir bequem. Kriege auch auf einem Teller eine dünn gepuderte Waffel. Er liest ganz hübsch, bis es an die Fensterscheibe klopft, und dann schiebt Freund Leisetöne seinen Kleinsten und nen Buggy in den Raum, schält den Kleinen aus dem Astronautenpack und setzt sich. Der Kleine rennt rum, rutscht lustvoll über die ausgebreiteten Decken und macht ein bisschen Krach. Sein Vater und der Vorleser bleiben erstaunlich ruhig und freundlich. Das liegt vielleicht an Michael Endes Text, der nicht viel Aufmerksamkeit fordert, so wirkt wie runtergeschrieben, als hätte der Autor kurz vorher noch nicht gewusst, was er gleich schreiben werde. So sind Endes Texte, hangeln sich von einem Einfall zum nächsten. Leisetöne ist hier schon zu Hause, hat nämlich zusammen mit einem Freund letzten Sonntag vorgelesen, was ich aber erst später erfahre.

Ist das Ende des Kapitels erreicht, drängt uns das Kind noch, zwei Weihnachtslieder zu singen, „Schneeflöckchen“ und ? Ich muss Leisetöne fragen, der uns übrigens auch die zweite Strophe von Schneeflöckchen vorsagen musste, die ich in meinem ganzen langen Leben als vierfacher Vater noch nie gehört hatte. Anschließend danke ich für den schönen Nachmittag. Wir verabschieden uns. Leisetöne steckt seinen protestierenden Kleinsten wieder in den Astronautenpack und hebt ihn in den Buggy. Er lässt mich schieben, weil er drehen und rauchen will. Begleitet mich noch nach Hause. Da komm ich an – ein bisschen anders als ich losgegangen bin. Den Kohlensack lass ich vor der Tür.

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