Vom Klingeln und Klopfen

Wenn, als ich jung war, geklingelt oder geklopft wurde, ward ich vergnügt, denn ich dachte, nun käme es. Jetzt, wenn es klopft, erschrecke ich, denn ich denke: “da kommt’s” (Arthur Schopenhauer, 1822)

Heute früh wurde bei mir geklingelt und nachdem ich vergeblich den Hörer der Sprechanlage für die Haustür ans Ohr gehoben hatte, da wurde auch leise geklopft. Ich öffnete unbesehen und erschrak ein klein bisschen. Da neigte sich nämlich eine junge blonde Frau im kurzen schwarzen Kleidchen mir zu und bat mich vertrauensvoll, ihr den Hausschlüssel zu leihen, weil jemand mal wieder die Tür zum Hof abgeschlossen hatte, so dass sie nicht an ihr Fahrrad konnte. Für eine Zehntelsekunde hatte ich gedacht, die Frau kennen zu müssen, weil sie so vertraut tat. Da konnte ich förmlich spüren, wie mein Unbewusstes das Gesicht scannte und nach Entsprechungen in meinem Gedächtnis kramte, bis die Erkenntnis dämmerte, sie müsste eine meiner Oberobernachbarinnen sein. Gleichzeitig begriff ich die Situation, dass es ihr nämlich viel zu lästig war, noch mal zur 4. Etage zu steigen, sagte: „Ja, ich weiß auch nicht, wer die Hoftür immer abschließt“, griff zum Schlüsselbund am Haken neben der Tür und gab ihn ihr.

Freilich weiß ich nicht wirklich, ob sie auf der 4. Etage lebt. Letztens kam ich spät Abends vom Limmern. Es war etwas später geworden auf der Limmerstraße, weil ein befreundeter Sozialwissenschaftler zu uns gestoßen war, der endlich sein Diplom geschafft hat und entsprechend gefeiert werden musste. Folglich hatte ich mehr getrunken als sonst. Derweil ich die Haustür öffnete und mein Fahrrad in den Gang schob, wollten zwei junge, hübsche Frauen mit ins Haus. Wie ich noch darüber erstaunt war und sagte: „Man kennt sich ja gar nicht hier im Haus“, sagte die eine: „Da haben Sie Recht! Wir wohnen auf der 4. Etage.“ Und ich so uncharmant: „Ach, Sie sind die Frau, die immer so laut die Treppe herunter kommt.“ Jedenfalls glaube ich nun, dass die blonde Frau damals am Abend auch dabei war. Ich war aber zu betrunken, sie wirklich zu registrieren. Inzwischen kommt auch die andere nicht mehr wie ein Gewitter herunter, was ich sehr bedauere. Mich hat das Jugendlich-Ungestüme nämlich immer an ihr erfreut. Meine Bemerkung war überhaupt nicht als Kritik gemeint gewesen, sondern ich nannte nur ein Erkennungsmerkmal. Mich stören nämlich die Lebensäußerungen der anderen Hausbewohner kein bisschen, hab sogar gerne, wenn geklingelt und geklopft wird, und ich käme mit klarem Kopf niemals auf die Idee, mich irgendwo zu beschweren. Sollen denn alle nur um einander herumschleichen? Jedenfalls habe ich schon darüber nachgedacht, wie ich meinen trunkenen Fauxpas wieder gut machen könnte.

Ich weiß nicht, ob die Datierung des Schopenhauer-Zitats stimmt, aber 1822 war Schopenhauer erst 34 Jahre alt. Aus heutiger Sicht ist man mit 34 noch jung, und selbst ich im vorgerückten Alter kann es noch getrost klingeln und klopfen lassen. Kaum habe ich das geschrieben, steht eine lästige Frau von Kabel Deutschland vor meiner Wohnungstür, die mich durch ihre Hartnäckigkeit zwingt, unhöflich zu werden. Erneuter Fehler in meinem galaktischen Betriebssystem? Dann hier noch mal fürs Protokoll: Derlei Volk hatte ich nicht gemeint.

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