Einiges über den virtuellen Stammtisch und bröckelnde Macht

Kürzlich las ich beim Kollegen Bloedbabbler die Klage über das niedrige Niveau in Forendiskussionen, wo er sich in letzter Zeit glaubte verschlissen zu haben:

„Ich hatte versucht in meinem -beinahe- Heimatboard etwas gegen die ‚Alle Griechen sind faule Betrüger‘, ‚…was uns der Grieche bis heute schon gekostet hat‘ oder schlicht gegen die faulige Herrenmenschenattitüde anzustinken, nahezu ohne Erfolg. Der Hinweis mit Link, dass wir – (…) – bisher ca. 300 Millionen Euro als Zinszahlung von den Griechen bekommen haben, aber im Gegenzug noch kein Geld verloren haben, (…) wurde nicht zur Kenntnis genommen. Bereits zwei Postings darunter schrieb man wieder: ‚Was uns der Grieche bisher schon gekostet hat. Fauler Grieche…‘ Ich habs dreimal probiert und es wurde nicht zur Kenntnis genommen.“ (bloedbabbler)

Ich glaube, der Idee, man könnte im Internet gepflegt und argumentativ diskutieren liegt ein grundsätzlicher Irrtum zugrunde, nämlich eine Verwechslung mit den schriftlichen Diskussionen und Diskursen der Buchkultur, abgedruckt in wissenschaftlichen Zeitschriften oder in Feuilletons großer Zeitungen. Diese Verwechslung scheint mir primär visueller Natur zu sein. Die meisten von uns sind in der Buchkultur aufgewachsen und haben den Hochwert der technischen Schrift verinnerlicht, der sich ausdrückt im Topos: „Die Macht des gedruckten Wortes“.

Woher kam diese Macht? Sie wurzelte im technischen Erscheinungsbild der Schrift. Sie zeigte dem Leser an, dass hier mehrere Personen an der Entstehung und Verbreitung einer schriftlichen Äußerung beteiligt waren. Das hob sie auf eine überindividuelle Ebene. Dem Autor der Buchkultur stand eine ganze Reihe von Spezialisten zur Seite. Setzer und Korrektoren wachten über die Rechtschreibung, Redakteure und Lektoren achteten auf guten Stil und sachliche Richtigkeit, Verleger sicherten die Relevanz. Vor allem sind Druckwerke Medien der einseitigen Kommunikation. Es ist keine Widerrede auf Augenhöhe möglich. Selbst der Leserbrief in Zeitungen obliegt einer strengen Auswahl durch den Leserbriefredakteur.

Mit der Demokratisierung der technischen Schrift kehren die verschiedenen Qualifikationen der am Druck beteiligten Fachleute in eine Hand zurück, und es ist auch nur noch ein Kopf am Werk. Schreiber im Netz sind auf sich gestellt, haben aber Zugriff auf die technische Schrift und können ihren Äußerungen die perfekte äußere Form geben, die vom Hochwert der Buchkultur zehrt. Während die Handschrift das soziokulturelle Umfeld ihres Schreiber spiegelt, wird es mit Druckschrift verborgen. Texte im Internet, besonders in Foren oder Kommentarkästen sind in der Regel aber den mündlichen Äußerungen näher. Sie können in rascher Wechselseitigkeit entstehen.

Besonders der Faktor der Zeitnähe erlaubt keine geistige Distanzierung, kein Zurücklehnen zur Reflexion. Hinzu kommt eine gefühlsmäßige Beteiligung, eine innere Unruhe und Aufregung, die wir aus der gedruckten Schriftlichkeit nicht kennen, gegen die wir folglich nicht gewappnet sind.

Es entsteht ein
virtueller Stammtisch, auf dem Zettelbotschaften hin- und hergeschoben werden, die kaum einer noch richtig liest und versteht. Vor allem aber geht mit der anwachsenden Flut von Zetteln der Überblick verloren, weil es ermüdende Lesearbeit und strapazierende Erinnerung erfordern würde noch zu wissen, was bereits wie worüber gesagt wurde. So fallen bereits nach dreimaligem Hin und Her Sinn und Verstand unter den Tisch und werden ersetzt durch Emotionen. Da scheint sich zu bewahrheiten, was der Medienphilosoph Vilém Flusser schon 1990 angenommen hat, der Mensch müsse das alphabetische, lineare Denken aufgeben, wenn er sich im digitalen Zeitalter behaupten will.

Am virtuellen Stammtisch gibt es auch keine Autorität, vor allem nicht, wenn sich die Gesellschaft rein zufällig zusammenfindet. Es entsteht eine scheinbare Augenhöhe, die auch der Ungebildete selbstverständlich für sich beansprucht.

Wer sich im Dialog Aug in Aug über eine Äußerung ärgert, wird sein Gegenüber deshalb nicht beschimpfen. Da man sich aber im Internet maskiert begegnet auf einer Einkanalebene, die ihre anderen Kanäle allenfalls simuliert, können die Wogen hoch her gehen. Wer mir eine Beleidigung in Druckschrift entgegenschleudert, der aber tut es mit der weiter oben beschriebenen Macht. Da ist es fast ein Glück, dass diese Macht im Internet überstrapaziert wird und an allen Ecken und Enden bröckelt.

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2 Kommentare zu Einiges über den virtuellen Stammtisch und bröckelnde Macht

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